Wir leben in interessanten Zeiten. Und gleichzeitig hat der Begriff Selbstfürsorge Hochkonjunktur. An sich ist es zwar positiv, wenn Menschen auf ihr Wohlbefinden achten, anstatt sich von den aktuellen Krisen über ihre Grenzen hinweg stressen zu blassen. Trotzdem lohnt es sich, das Konzept der sogenannten Self-Care zu hinterfragen.
Selbstfürsorge ist nicht ohne Grund eine meiner Blogkategorien. Es passiert mir immer wieder, dass ich mich in einer Selbstblockade wiederfinde oder in unrealistischen Vorhabenlisten ertrinke. Manchmal drohe ich am Zustand der Welt und der Gesellschaft zu verzweifeln und kämpfe immer noch darum, nachhaltig Grenzen zu setzen. Bei einer von Judith Peters‘ wunderbaren Aktionen habe ich schließlich Selbstfürsorge als eine meiner Bestimmungen identifiziert.
Die Frage ist: Wovon sprechen wir überhaupt? Oder anders: Meinen wir wirklich dasselbe? Und gibt es vielleicht auch Fallen, in die wir tappen können?
Selbstfürsorge ist kein neuer Trend
Auch wenn Self-Care modern erscheint: Der Begriff in der heutigen Bedeutung geht zurück auf Audre Lorde, eine wichtige afroamerikanische Autorin, politische Aktivistin und Vordenkerin. 1988 schrieb sie:
“Caring for myself is not self-indulgence, it is self-preservation, and that is an act of political warfare.”
Audre Lorde
Diese Worte waren eine Reaktion auf ihre zweite Krebsdiagnose und auf rassistische Vorstellungen davon, wie sich eine Frau wie sie in die Gesellschaft einzufügen habe. Audre Lorde war eine hochbegabte Schriftstellerin und andererseits mehrfach von Diskriminierung betroffen. Sie starb im Alter von nur 58 Jahren.
Dass wir uns heute darüber unterhalten, wie wir wirksam auf uns achten, haben wir auch ihr zu verdanken. Es ist nur gerecht, auf die feministischen, antirassistischen und generell gesellschaftskritischen Ursprünge dieses Begriffes hinzuweisen. Für das Verständnis und das Vermeiden von Denkfallen ist es sogar grundlegend wichtig, wie wir noch sehen werden.
Selbstfürsorge ist nicht egoistisch
Sie ist auch kein Selbstzweck. Ich jedenfalls meine mit Selbstfürsorge nicht, dass wir nur noch die Füße hochlegen und uns auf unser eigenes Wohlbefinden konzentrieren. Es ist wie mit der Sauerstoffversorgung im Flugzeug: Wenn andere Menschen bei mir immer eine höhere Priorität haben als ich, ist das ein Raubbau an meinen Ressourcen. Nur dann, wenn ich für mich selbst sorge, kann ich für andere nachhaltig zur Verfügung stehen.
Natürlich ist es möglich, Selbstfürsorge so zu verstehen, dass ich nur noch auf mich achte. Damit isoliere ich mich allerdings und so eine Lebensstrategie wird nicht lange gut gehen.
Aus meiner Sicht ist es sinnvoll, meine Bedürfnisse so gut im Blick zu haben und zu erfüllen, dass ich mit anderen Menschen möglichst gut in Kontakt bleiben kann. Das ist kein Egoismus, sondern gesundes Miteinander.
Self-Care ist politisch
Wie Audre Lorde schon sagte, geht es um einen radikal politischen Akt. Unser westliches Gesellschafts- und Wirtschaftssystem lebt davon, dass wir uns möglichst nahtlos einfügen und seine Dogmen wie zum Beispiel das ständige Wachstum nicht hinterfragen.
Sehr zynisch formuliert: Wir arbeiten mehr Stunden, als wir müssten, um möglichst viel Geld zu verdienen, damit wir uns mehr Dinge kaufen können, die wir eigentlich nicht brauchen, die uns aber darüber hinweg trösten, dass wir so viel arbeiten. Damit es eine erfolgreiche Klasse geben kann, muss ein Teil der Gesellschaft am Rand zur Armut leben. Denn durch den künstlich herbei geführten Mangel lassen sich Menschen im Streit untereinander davon ablenken, was an anderer Stelle für ein Schaden am Planeten angerichtet wird. Bis es irgendwann zu spät ist.
Sobald wir Audre Lordes Prinzip befolgen und uns wenn auch nur zeitweise aus dem emotionalen und mentalen Stress heraus begeben, stehen wir für diesen Augenblick dem Hamsterrad nicht mehr zur Verfügung. Und in diesen Momenten realisieren wir idealerweise, worum es in diesem Leben wirklich geht und wie viel mehr Selbstwirksamkeit uns zur Verfügung steht, als wir dachten. Damit können wir an den Zuständen, die uns alle auf Dauer überlasten, etwas ändern.
Selbstfürsorge ist keine Selbstoptimierung
Die Sozialen Medien haben die Tendenz, sinnvolle Ansätze in absurde Extreme zu treiben. Irgendwann kippt der Gedanke, mir etwas Gutes zu tun, in einen Wettbewerb im Gutes-Tun. Wer Self-Care betreibt, ist gesund, erfolgreich und gutaussehend. Sonst kann es ja mit der Selbstfürsorge nicht so weit her sein, oder?
Influencer:innen präsentieren sich im Urlaub, beim Yoga, aufgeräumt, entspannt und gut gelaunt. Wenn es bei mir und dir nicht so aussieht, dann müssen wir uns wohl ein bisschen mehr anstrengen. Und so ziehen wir uns noch zusätzlich Energie ab, anstatt unseren Akku aufzufüllen.
Besonders schlimm wird es, wenn wir in den Strudel der toxischen Positivität geraten. Oft ist es wichtig, Wut, Traurigkeit oder Angst anzuerkennen und als Reaktionen auf Lebens- und Weltlagen anzunehmen, statt trotz der multiplen Krisen zwanghaft Heiterkeit auszustrahlen.
Das ist einer der Selbstregulationsmechanismen unseres Gesellschaftssystems: Manchmal tauchen Ideen auf, mit denen wir uns mehr mentale Freiheit verschaffen, die kollektiven Glaubenssätze mit etwas Abstand zu betrachten und dabei festzustellen, wie wenig der Kaiser anhat. Solche Aktivitäten werden wie automatisch gerne mit Wettbewerbscharakter vereinnahmt. Und schon streben wir ein weiteres Ziel an, in der knappen Zeit, die uns neben unserer Arbeit zur Verfügung steht.
Selbstoptimierung ist die paradoxe Antwort, mit der wir genau das Gegenteil von dem erreichen, was Audre Lorde für sich beschlossen hatte: Weniger Selbstwirksamkeit und weniger Möglichkeit, die Dinge zu ändern.
Selbstfürsorge ist nicht käuflich
Eine weitere paradoxe Reaktion des bestehenden westlichen Systems ist es, aus Gegenbewegungen einen neuen Wirtschaftszweig zu machen. Wer das im Detail sehen möchte, braucht nur in der Suchmaschine der Wahl die Begriffe „Selfcare Produkte“ einzugeben.
Anscheinend brauche ich dringend Tees, Kerzen, Duftöle, Bücher, Kurse, Kissen, eine umfassende Yogaausrüstung, Badezusätze und die richtige Musik, wenn ich mich angemessen um mich kümmern möchte. Mindestens.
Wenn danach noch Geld übrig ist, kann ich in ein paar Wandtattoos investieren oder am besten gleich in eine Reise, für deren Ort ich mich wieder an den üblichen Influencer:innen orientiere. Diese Form von Self-Care hat einen Gewinner: Das Bruttosozialprodukt.
Immerhin erfülle ich so meine Aufgabe als brave Konsumentin. Dabei hatte ich mir eigentlich vorgestellt, mich weniger abhängig zu machen, weniger Geld verdienen zu müssen, weniger Müll zu verursachen und weniger Rohstoffe zu verbrauchen.
Wie wir sehen, ist unser System selbststabilisierend. Umso mehr Grund, auf uns zu achten, damit wir genug Zeit, Energie und mentale Kapazitäten haben, diese Mechanismen zu hinterfragen, und Mitmenschen zu einer gesünderen Form der Selbstfürsorge zu inspirieren.
Selbstfürsorge ist kein Allheilmittel
Wenn ich mir im Flugzeug meine eigene Sauerstoffmaske aufgesetzt habe, sehe ich mich um, ob jemand anderes Unterstützung braucht. Ob irgendwo ein schwerer Gegenstand befestigt werden sollte.
Genauso ist auch die Selbstfürsorge nur der erste Schritt, der mich in die Lage bringt, meine Selbstwirksamkeit einzusetzen. Nur davon, dass es mir gut geht, ändern sich die Verhältnisse nicht. Gleichzeitig kann ich auf Dauer nicht an den Problemen unseres Systems arbeiten, wenn ich über meine Grenzen gehe. Beides bedingt sich gegenseitig. Wenn wir unseren Akku gefüllt haben, ist es Zeit, aktiv zu werden.
Es gibt viele Organisationen, die an unterschiedlichen Baustellen arbeiten. Sobald ich für mich herausgefunden habe, wie und wo ich mich für unserer gemeinsame Zukunft einsetzen will, kann ich mich ihnen anschließen. Und dann wird aus einer Gruppe von resilienten Individuen eine Gemeinschaft, die in einem ganz anderen Maßstab wirksam ist als viele vereinzelte Menschen, die auf Instagram den neuesten Meditationstrends folgen.
Self-Care ist eine Frage der Haltung
Wenn es also nicht darum geht, mein Zuhause mit Duftkerzen und harmonisierenden Postern zu gestalten, worum dann? Natürlich zünde auch ich gerne mal eine Kerze an. Auch in meinem Zuhause habe ich an vielen Stellen Zitate angebracht. Tatsächlich sind sie alle handgeschrieben, auf schlichten weißen Stücken Papier. Ich habe wenig Geld dafür ausgegeben, dafür fühle ich mich mit ihnen emotional sehr verbunden.
Wichtiger als ein Gerüst von Vorschriften ist ein Bewusstsein für die möglichen Fallen und Denkfehler und für das, was mir persönlich eigentlich bei der Sache wichtig ist. Was ich daraus für mich und die Welt gewinnen will. Ein Blick darauf, welche Ressourcen mir schon zur Verfügung stehen.
Wenn Selbstfürsorge für mich eine Reaktion auf ein nicht ideales Gesellschaftssystem ist, dann ist es logisch, dass ich mich mit meinen eigentlichen Wurzeln beschäftige und mich in die Natur begebe. Jedenfalls in die Variante von Natur, die ich in meiner Umgebung finde. Dort kann ich mit mir und der Welt so unmittelbar wie möglich in Kontakt treten.
Wenn ich auf der Basis dieser Haltung eine Liste schreiben sollte, die ohne Selbstoptimierung, Egoismus und Lifestyle-Produkte auskommt, dann wäre es diese:
- Nein sagen und Grenzen setzen
- Immer wieder mit der Natur in meiner Umgebung in Kontakt treten und auftanken
- Für den Kontakt mit meinen Mitmenschen ein gesundes Maß finden
- Meine Prioritäten immer wieder neu abklopfen
- Mich im Rahmen meiner Möglichkeiten gesellschaftlich einbringen
- Dogmen und Glaubenssätze hinterfragen
- Mich bilden und mein Wissen weiter geben
- Nachsicht mit mir und anderen haben
Was heißt Selbstfürsorge für dich? Wo siehst du ihr Potential und wo Probleme? Hast du meiner Liste noch weitere Punkte zuzufügen? Für mich gehört auch gerade der Austausch um diese Begriffsklärung absolut dazu.
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