Es gibt Themen, die ich schwierig finde. Susanne Burzel fragt in ihrer diesjährigen Blogparade nach Geschichten über Hochbegabung. Als ich die Liste mit aktuellen Blogposts der Content Society durchstöberte, dachte ich bei dem Titel:
„Na, da mache ich aber garantiert nicht mit!“
Schließlich gibt es in dieser Gemeinschaft jedes Jahr eine lange Liste an spannenden Blogparaden, bei denen die meisten Aufrufe mich sehr motivierend abholen.
Dann kam die verzögerte Reaktion. Vielleicht sollte ich gerade wegen dieser ersten Ablehnung einen Beitrag schreiben. Gesagt, getan: Nach meinem „Ja zu Deutschland“ wird dies mein zweiter von vermutlich wieder mehr als zehn Artikeln im Blogparadensommer der TCS.
Meine Geschichte
Was hat Hochbegabung mit mir zu tun?
Mein Vater ist Psychologe, inzwischen im Ruhestand. Als ich sehr klein war, studierte er noch und hat alle möglichen Tests mit nach Hause gebracht. In Sachen Motorik war ich nicht so gut und dass ich ein „schönes Dreieck“ aus lilafarbenen Teilen gelegt habe, war auch irgendwie alarmierend 😉
Er hat darüber hinaus zu Übungszwecken die ganze Familie auf ihren IQ durchgetestet. Beim Hamburg-Wechsler-Test für Kinder lag ich plötzlich deutlich oberhalb der Norm. Mein Vater war selbst etwas erschrocken, sagt er.
Solche Tests sind ja nur innerhalb einer Kohorte und einer Region wirklich vergleichbar, aber ich war wohl ungefähr drei Standardabweichungen vom Durchschnitt entfernt. Auch wenn es mein Vater war und so lange her ist, ist bei diesem Ergebnis ein Messfehler unwahrscheinlich.
Wie wirkte sich das auf meine Schulzeit aus?
Ich bin tatsächlich gerne zur Schule gegangen. Jedenfalls, was das Lernen angeht. Und gleichzeitig waren meine Noten nicht auffällig gut. In der ersten Klasse traf ich auf einen sehr flexiblen Klassenlehrer, das war im Nachhinein ein echter Glücksfall. Meine Eltern berichten mir, ich habe ihm gesagt, ich hätte mir ein Buch mitgebracht, das würde ich dann jetzt lesen und er solle sich melden, wenn er etwas Spannendes zu erzählen hätte 😀
Andere Lehrerinnen waren wohl nicht so geduldig mit mir. Zum Glück erinnere ich mich nicht daran, sondern an meinen Spaß am Lernen an sich. Und auch an meinen Frust, wenn etwas nicht auf Anhieb leicht klappte. Es gab bis auf Sport kein Fach, das ich nicht grundsätzlich interessant fand.
In der achten Klasse schrieb ich ein Halbjahr lang in Mathe eine fünf nach der nächsten. Das war sehr befremdlich, weil es ein Teil meiner Identität war, Mathematik gut zu können. Zum Glück war nach ein paar Monaten der Spuk vorbei und wir haben die Erfahrung auf die Gehirnumstrukturierung in der Pubertät geschoben.
Was mir geblieben ist, ist eine Sorge, dass mit meinem Gehirn etwas nicht in Ordnung sein könnte. Ein hoher IQ-Wert ist offenbar nichts, was garantiert erhalten bleibt.
Wie ging es weiter?
Im Studium habe ich Informationen einerseits aufgesaugt und wurde wegen meiner Prüfungsnoten für ein Stipendium vorgeschlagen. In dem Gespräch habe ich dann allerdings anscheinend den einen Prüfer nicht beeindruckt. Generell scheint mir, dass viele Menschen mir von außen nichts ansehen. Eher werde ich unterschätzt.
Vor allem später, in meiner Zeit als Lehrerin im Schuldienst. Besonders Schüler haben oft versucht, mir die Welt zu erklären: Der Opa mit Elektrikerlehre wisse bestimmt besser, wie so ein Stromkreis funktioniert. Ein Vater ließ mir ausrichten, ich sei wohl wahnsinnig, Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff zu trennen und dann eine Knallgasprobe zu machen.
Auch Kolleg:innen hatten die Tendenz, von oben herab mit mir zu sprechen. Unter anderem, weil ich „nur“ als Grund- und Hauptschullehrerin ausgebildet wurde. Nach einer Promotion in Chemie, aber trotzdem.
Das hat mich geärgert, und gleichzeitig bin ich inzwischen so sehr daran gewöhnt, dass ich das mit diesen Menschen nicht thematisiere. Was sollte ich auch sagen? Selbst Menschen, die mich lange kennen, würden vielleicht davon ausgehen, dass ich ungefähr durchschnittlich intelligent bin.
Ich bin im Rückblick mit meinem Lebensweg sehr zufrieden. Und gleichzeitig habe ich immer wieder den eingeschlagenen Pfad abgebrochen und bin von außen betrachtet hinter meinem Potential zurück geblieben. Das ist so und vielleicht ein bisschen schade für das Potential. Andererseits möchte ich mein aktuelles Leben um nichts in der Welt tauschen.
Ich mache heute das, was mir Spaß macht, was mir leicht fällt und was gebraucht wird.
Was macht das Thema Hochbegabung so schwierig für mich?
Oft vergesse ich die ganze Thematik. Und dann wundere ich mich, warum andere Menschen die Welt nicht so sehen wie ich. Wie sie es schaffen, viele Dinge auszublenden, die bei mir ungebeten so gut wie immer auf dem Schirm mitlaufen und warum sie manchmal so anders denken.
Als Kind habe ich den Anspruch wahrgenommen, mich meinem Potential entsprechend zu verhalten. Gleichzeitig kam mein Hang, zum Beispiel meine Großmutter regelmäßig in ihrer Grammatik und Wortwahl zu verbessern nicht gut an. Für mich ergab sich daraus die Botschaft, dass ich zwei sich teils widersprechende Erwartungen gleichzeitig erfüllen sollte: Angemessen schlau sein, das aber möglichst unauffällig. Und diesen Konflikt trage ich noch immer unterbewusst in mir.
Bei Filmen oder Büchern über hochbegabte Menschen fühle ich mich unbehaglich. Ich bewundere andere, die leichtherzig über ihre Hochbegabung sprechen, und ich beneide sie um diese entspannte Einstellung. Ich wäre damit auch gerne sortierter, möchte aber eigentlich nicht gerne darüber sprechen. Selbst dieser Blogpost ist mir suspekt.
Zu all dem kommt noch eine großzügige Portion Impostor-Syndrom. Weil ich keine „offizielle“ Diagnose habe und vieles an lebensnützlichen Dingen nicht kann. Weil ich im Rahmen der Wechseljahre ein Zeitlang Gedächtnisprobleme hatte und dabei das Gefühl hatte, mein Gehirn zerbröselt. Und weil ich mir mit meinem Long-COVID manchmal noch einen zusätzlichen Verlust an IQ-Punkten zusammen hypochondriere.
Ich hätte eventuell Interesse an einem weiteren offiziellen Test und gleichzeitig Bedenken, dabei drastisch niedriger abzuschneiden. Und während ich das schreibe, muss ich selbst mit den Augen rollen.
Denn das alles ist nebenbei ein Luxusproblem. Als Lehrerin hatte ich deutlich vor Augen, wie hart die Schulzeit für Kindern ist, denen das Lernen schwer fällt. Es scheint mir undankbar, wenn ich mir Gedanken um die Nachteile eines ungewöhnlichen Gehirns mache. Vielleicht ist mein Unbehagen nur ein Teil meines Hangs zum Problematisieren.
Und dann haben wir noch nicht darüber gesprochen, was am Konzept Intelligenzquotient gesellschaftlich problematisch ist. Auf seiner Basis fanden und finden eine Reihe von Diskriminierungen statt, auch im Bildungsbereich. Mehr dazu habe ich in meinem Blogartikel „Warum Lernen politisch ist“ geschrieben.
Meine Unterrichtserfahrungen mit hochbegabten Kindern
Mir sind beruflich ein paar hochbegabte Kinder begegnet. Und sie waren sehr unterschiedlich: Teils fröhlich und unkompliziert in die Klasse integriert, teils sehr sensibel und leicht gestresst. Mit meiner Erinnerung an meinen eigenen ersten Klassenlehrer habe ich ihnen Freiheit zum selbstbestimmten Lernen gegeben, so weit ich das konnte, ihnen aber dabei keinen extra Druck gemacht. Am Ende sind es auch einfach Kinder mit dem Bedürfnis zu spielen und lachen und dann und wann mal die Füße hoch zu legen.
Es gab auch ein eher beklemmendes Beispiel. Eine Schülerin wurde mir von ihrer Mutter vorgestellt mit:
„Sie kratzt an die 129!“
Da hatte sie also im Test nicht die 130 geschafft. Also gerade so nicht genug für die offizielle Hochbegabung. Und was die Eltern davon mitgenommen hatten war, dass das Mädchen dringend gefördert und gefordert worden sollte. Ich unterrichtete damals in der zweiten Klasse Mathematik bilingual auf Englisch. Und dieses Kind verstand kaum ein Wort, verpasste dadurch auch die mathematischen Inhalte und war sichtlich unglücklich. Das Bedürfnis von Eltern, sich über ein hochbegabtes Kind zu definieren, kann für das Kind selbst ungesunde Folgen haben.
Was würde ich mir wünschen?
Es wäre schön, würde heutzutage Mädchen und Frauen Hochbegabung genauso zugestanden wie Männern und Jungen. Wir glauben oft, die Verhältnisse seien inzwischen so gut wie ausgeglichen, und trotzdem nehme ich das Klischee von „Überfliegerjungen“ deutlich wahr. Das trägt bei betroffenen Mädchen dazu bei, dass sie sich deutlich schwieriger innerlich sortieren. Oder vielleicht geht es auch nur mir so 😉
Ich wünsche mir, dass in allen Schulformen Kinder wirklich entsprechend ihren Fähigkeiten gefördert und gefordert werden. So wie wir es uns auf die Fahne geschrieben haben. Dazu müssen allerdings alle Lehrkräfte die entsprechende Haltung mitbringen und vor allem auch die notwendigen Rahmenbedingungen vorfinden. Bei beidem sehe ich noch Luft nach oben.
Andererseits halte ich es für sehr wichtig, Kinder auch Kinder sein zu lassen. Das meine ich ausdrücklich nicht als Phrase. Notendruck oder Karriereerwartungen sind auch oder gerade für hochbegabte Kinder und Jugendliche kontraproduktiv. Und dann setzt beim scheinbaren „Verfehlen“ von Potential zusätzlich ein vollkommen unangebrachtes schlechtes Gewissen ein.
Zuletzt wünsche ich mir Wertschätzung der Wissenschaft, dem Wissen und dem Lernen gegenüber. Aktuell sehen wir besonders in den USA deutlich, wie autoritäre Regime Meinung und Dogmen über Rationalität und durch Forschung erworbenes Faktenwissen ersetzen. Dadurch ausgeschlagene Warnungen führen zum sehr frustrierenden Kassandra-Syndrom, mal ganz abgesehen von vermeidbaren Krisen. Das könnte die Menschheit deutlich bessern handhaben.
Was sind deine Erfahrungen mit Hochbegabung?
Betrifft das Thema Hochbegabung dich oder einen Menschen aus deinem Umfeld? Was sind deine persönlichen Erfahrungen damit?
Oder interessiert das Thema dich einfach so?
Wie erlebst du hochbegabte Menschen und den Umgang der Welt mit ihnen?
Und was würdest du dir in diesem Zusammenhang wünschen?
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