Wofür brauchen wir Mathe überhaupt? – Die pro-Antwort
Es gibt Menschen, die schreiben Lieder über die Vorteile und Nachteile des Daseins als Zombie. Bei mir geht es etwas harmloser zu. Obwohl, vielleicht ist das eine Frage der Perspektive, denn das Fach Mathematik löst bei vielen ziemlich starke Emotionen aus. Dies hier ist der Beitrag pro Mathe, der contra-Post ist hier.
Nicht alle finden Mathe schön
Es passiert mir nicht selten, dass ich im Unterricht mit großer Begeisterung Hoch- und Tiefpunkte pantomimisch vortanze oder von der Schönheit einer Ebenengleichung schwärme und mehrheitlich glasige Blicke ernte. Dann denke ich mir immer, dass die Mathematik grundsätzlich sehr missverstanden ist. Auch wenn ich mit meinem Enthusiasmus nicht alleine bin, ich würde mir wünschen, dass wenigstens die Jugendlichen, die jahrelang zum Genuss dieses Faches verpflichtet sind, ein bisschen einen weicheren Blick auf die Sache bekommen. Schon alleine aus Eigeninteresse, denn sie kommen ja nicht drum herum.
Grundkenntnisse
Ich habe ein paar Jahre teilweise in der Grundschule unterrichtet und erlebt, was für einen organischen und offenen Zugang jüngere Kinder zur Welt der Zahlen haben. Wie sie Kekse auf Zwerge aufteilen und an einer gespielten Supermarktkasse Beträge addieren. Dieser Teil der Mathematik ist für die meisten Menschen einfach nachzuvollziehen. Wie viel Mathematik Menschen angeboren ist, wird in Forschungskreisen diskutiert (Außerdem auch, inwieweit uns diese Fähigkeit von anderen Tieren unterscheidet.) Über die Frage, wie viel mathematisches Verständnis uns angeboren ist, werde ich später noch einmal bloggen.
In höheren Klassenstufen wird immer mehr und immer detaillierter auf den Grundfertigkeiten aufgebaut. Und dann wird es entweder anstrengend oder spannend. Das liegt in meinen Augen unter anderem daran, dass die Mathematik ist zu großen Teilen eigentlich eine Sprache ist, diese Tatsache aber nicht allen Beteiligten klar ist.
Mathematik als Sprache
Wir übersetzen Textaufgaben, die wenigstens theoretisch im Alltag stattfinden, in Vokabeln wie „Mittelwert“, „Schnittpunkt“ und „relative Häufigkeit“. Hinter diesen eigentlich schlichten deutschen Worten öffnet sich jeweils eine Tür zu einem Raum mit Rechenoperationen, Regeln und Bedingungen. Diese Begriffe, die an sich schon eine kurze Geschichte zusammenfassen, übersetzen wir dann noch in zunehmend kompaktere Formelzeichen. Und die verarbeiten wir dann nach einem hoffentlich gut beherrschten Algorithmus. Das Ergebnis holen wir dann wie nach einer Heldenreise zurück in die normale Welt. Und können damit eine Aussage über die Geschichte machen, die die Textaufgabe erzählt.
Mir ging es bei allen Sprachen, die ich gelernt habe so, dass der Anfang sehr leicht war, die Vokabeln sich hauptsächlich um konkrete Begriffe aus dem Alltag drehten und in der Gegenwart stattfanden. Die erste Konfrontation mit Konjunktiven und Präpositionen, die sehr anders funktionierten als im Deutschen waren die Hürde, an der sich das Dranbleiben entschied, aber auch der Punkt, an dem Freiheit und Kreativität möglich wurde.
In der Mathematik ist dieser Punkt da, wo Schüler:innen nicht mehr auf eintrainierten Wegen rechnen, sondern die gelernten Vokabeln und Grammatikregeln nutzen, um sie frei und neu zu kombinieren. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass gerade diese Art Aufgaben eher unpopulär sind. Gleichzeitig motiviert mich das, wenigstens zu versuchen, junge Menschen in dieser Kompetenz fitter zu machen. Jüngeren Schüler:innen habe ich damals als Lehrkraft im Schuldienst zum Beispiel gerne Fermi-Aufgaben vorgelegt.
Mathematik als Ausdruck von Kreativität
Wenn die Sprache der Mathematik sicher beherrscht wird, wirken Beweise tatsächlich ein bisschen wie Gedichte und Hypothesentests wie Geschichten über die Beilegung von Konflikten, wenn auch sprachlich etwas minimalistisch. Eine harmonisch gestaltete Gleichung kann ein Lächeln auslösen, wenn eine Rechnung aufgeht, leben die Beteiligten glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Oder wenigstens bis zur nächsten Aufgabenstellung.
Der ästhetische Eindruck wird in der Geometrie noch ein Level weiter angehoben. Hier sehe ich eine große Schnittmenge mit der Kunst. Perspektiven und goldene Schnitte sind nur ein Teil des Überlapps. Mit einer halbzeiligen Gleichung eine Kugel in einen dreidimensionalen Raum zu setzen, hat etwas Magisches, solange ich mich nicht zeitgleich unter Druck setze, etwas richtig zu machen oder genug Punkte für das Bestehen einer Klausur zusammenzuhamstern. Ich kann Raketen durch den Weltraum fliegen und Hummeln mit Schmetterlingen kollidieren lassen. Ich kann durch einfache Rechenschritte einen Kreis so rotieren lassen, dass das Volumen eines Donuts berechenbar wird.
Mathematik als Teil der Menschheitsgeschichte
Und oft, wenn ich gefragt werde, wofür wir das alles brauchen, ist meine Antwort:
„Im Alltag für nichts. Allerdings pilgern wir hier eine Teilstrecke der Menschheitsgeschichte nach.“
Auch wenn diese Perspektive nicht immer alle Anwesenden begeistert, einige Teile des Curriculum sind eine Reise durch die Zeit, in die Vergangenheit. Damals haben unsere Ahnen unter ganz anderen Voraussetzungen und mit zum Teil sehr unterschiedlichen Weltbildern Meilensteine für die Entwicklung diverser Wissenschaften gesetzt. Und uns damit viele technische Hilfsmittel überhaupt erst ermöglicht. Diesen Menschen ein bisschen anerkennend über die Schultern zu gucken, finde ich tatsächlich spannend, obwohl ich selbst ansonsten für das Fach Geschichte oft nicht immer nur Begeisterung übrig hatte.
Mathematik als Grundlage zur Selbstwirksamkeit
Letztlich ist das, was in der Grundschule und der frühen Mittelstufe erarbeitet wird, eine Art Werkzeugkoffer. Zu den späten Klassenstufen hin werden die Aufgaben komplexer und Lehrkräfte gehen stillschweigend davon aus, dass ihre Schüler:innen eine Kiste zur Verfügung haben, die gut aufgeräumt ist und gefüllt mit Werkzeugen, die in ihrer Anwendung beherrscht werden. Und dass klar ist, bei welcher Gelegenheit welches Werkzeug weiter hilft. Oder wie sich eventuell auch kreativ mit einem anderen Werkzeug beholfen werden kann. Ein ideales Training für den Problemlösemuskel in unserem Gehirn und übertragbar auf Lebensbereiche jenseits der Schulzeit.
Mein Fazit
Ja länger ich darüber nachdenke, umso weitschweifender könnte ich meine Freude an der Mathematik mitteilen. Stattdessen kommt hier mein zusammenfassendes Fazit:
Wenn wir verstehen,
- dass Mathematik eine Sprache ist,
- deren Vokabeln und Grammatik wir entsprechend lernen und verstehen müssen,
- dass sie dann eine kreative Ausdrucksform sein kann,
- uns rückbindet an unsere Wurzeln und die Entwicklung der Menschheit in vergangenen Zeiten
- und uns bei guter Pflege und Organisation unseres Werkzeugkoffers ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit ermöglicht,
dann ist es uns hoffentlich möglich, dieses Fach ein bisschen mehr lieben zu lernen.
Was meinst du?
Und wie geht es dir mit der Mathematik? Wie war sie für dich in der Schulzeit? Und hat sich an eurer Beziehung später etwas geändert?
Schreibe einen Kommentar