Wer möchte nicht gerne dazugehören? Wir sind soziale Wesen und historisch waren Menschen, die nicht Teil der Gruppe waren, in Todesgefahr. Zum Glück werden wir heute nicht mehr für „vogelfrei“ erklärt, allerdings strengen sich schon Kinder oft an, um von ihren Familien oder Gleichaltrigen akzeptiert zu werden.
Iris Wangermann ruft in ihrer Blogparade dazu auf, über unsere eigenen Erfahrungen mit dem Dazugehören zu erzählen. Ein Thema, das natürlich auch mich mein Leben lang begleitet.
Mein Inneres Team
Ein Teil in mir ist ein Chamäleon. Sie passt ihr Vokabular und ihren Tonfall an die jeweilige Gruppe an und nickt alles Mögliche ab. Es ist ihr wichtig, nicht durch Befindlichkeiten die Stimmung runter zu ziehen oder Entscheidungsprozesse aufzuhalten. Umgekehrt ist sie genervt von Komplikationen durch andere.
Ein anderer Teil in mir legt großen Wert darauf, sich nicht ohne guten Grund für Mitmenschen zu ändern. Sie hat kein Interesse an modischen Trends, an Smalltalk, an dem was „alle“ machen. Für sie besteht vieles in der gesellschaftlichen und politischen Debatte aus Schildbürgergeschichten. Wenn sie Werbung sieht, besonders in sozialen Medien, bekommt sie von den vorhersehbaren Manipulationsversuchen schlechte Laune.
Ich bin wirklich gerne unter Menschen, allerdings am liebsten für mich. Besonders in der ersten Shutdownzeit 2020 habe ich das gemerkt. Seitdem bin ich nicht wieder zum gleichen Level an Interaktion mit anderen Menschen zurückgekehrt.
Dieser Widerspruch ist eine mittelgute Voraussetzung für das Dazugehören. Auf der anderen Seite habe ich früh gelernt, dass ich relativ gut damit leben kann, wenn eine Gruppe mich nicht akzeptiert. Relativ gut deswegen, weil es sehr von der Art Gruppe abhängt.
Anpassen oder Dazugehören
Was macht das Dazugehören so oft so schwierig? Vor ein paar Tagen lief mir folgendes Zitat über den Weg:
“Fitting in is about assessing a situation and becoming who you need to be to be accepted. Belonging, on the other hand, doesn’t require us to change who we are; it requires us to be who we are.”
Brené Brown
Wenn wir uns zu sehr von unserem eigenen inneren Kern entfernen, dann ist das Ergebnis kein Dazugehören. Dann bin ich diese dazugehörende Person nicht mehr. Das ist dann eine mehr oder weniger künstliche Figur, die einigermaßen aussieht und klingt wie ich.
Ein bisschen Anpassung ist notwendig, damit wir nicht im gesellschaftlichen Chaos und in Konflikten versinken. Kompromisse sind auch keine Katastrophe, solange ich mich noch wieder erkenne. Allerdings alles in Maßen.
Curt Cobains Widersprüche
Die Anpassung an Gruppenansprüche hat noch einen weiteren Haken. In „Come As You Are“ singen Nirvana über sich widersprechende Forderungen. „Komm wie du bist, wie ich dich haben möchte“ und „Nimm dir Zeit, sei nicht zu spät“.
“The lines in the song are really contradictory. One after another they are kind of a rebuttal to each line. It’s kind of confusing I guess. It’s just about people and what they are expected to act like.”
Curt Cobain
Gerade Frauen kennen diese Ansprüche, die nicht erfüllbar sind. Auch America Ferreras Rede in Barbie hat diese unerreichbare Meßlatte thematisiert. Dieses Nichtdazugehören von Frauen ist nochmal ein extra Thema für sich, das aktuell im Fall von Imane Khelif eskalierte.
Gibt es also das versprochene „Come As You Are“ wirklich nicht? Wie lässt es wenigstens ungefähr erreichen?
Familie
Die erste Gruppe, in die wir möglichst gut hinein passen sollten, ist die Familie. Meine frühen Erinnerungen und Erzählungen über meine Kindheit erzählen mir, wie ich mit meinen Eigenarten manchmal angeeckt bin und wie ich mich bemüht habe, auch gesehen zu werden. Als zweite Enkelin kam ich mit Schnupfnase bei meiner Oma angelaufen und sagte „Auch liebes Kind!“ Wie sie darauf regiert hat, weiß ich tatsächlich gar nicht.
Gleichzeitig haben mir meine Eltern vorgelebt, dass es möglich und bereichernd ist, unorthodox zu sein und nicht alles mitzumachen, was die Mehrheit für wichtig hält.
Wenn es mal größere Familientreffen gibt, habe ich immer unterschwellig ein warmes Gefühl der Verwandtschaft, ohne dass ich das in Worte fassen kann. Offensichtlich wurde meine widersprüchliche Haltung zum Dazugehören schon früh angelegt.
Zufällige Schicksalsgemeinschaften
In Kindergarten und Schule habe ich viel mein eigenes Ding gemacht. Ich war das Kind, das sich in der Grundschule „Robinson Crusoe“ mitbrachte und dem Lehrer sagte, ich würde das dann jetzt lesen, er könne sich ja melden, wenn er etwas Interessantes hätte.
Die anderen Kinder habe ich eher am Rand wahrgenommen. Für mich lief es ideal, wenn mich niemand geärgert hat. Auch als Lehrerin habe ich später etwas befremdet beobachtet, wie sich sehr manche Kinder und Jugendliche verrenken, nur um dazuzugehören. Ich hatte Freundinnen, aber im Rückblick haben sie eher mich untergehakt, als dass ich bewusst auf sie zugegangen wäre.
Später im Studium war ich von Menschen umgeben, die ähnlich tickten wie ich. Wir alle hatten Chemie als Fach gewählt. Dadurch war eine gewisse nerdige Tendenz vorgegeben. Auch von meinen Kommilitoninnen bin ich eher als Freundin aufgesammelt worden, als dass ich das angezettelt hätte. Trotzdem habe ich mich mit dieser Gruppe viel mehr verbunden gefühlt und auch mehr Interesse am Miteinander gehabt.
Selbst gewählte Gemeinschaften
Eigentlich nicht überraschend: Beim Dazugehören hilft es, sich Gruppen zu suchen, mit denen ich eine große Schnittmenge habe. Dann ist es eine echte Erleichterung, mich nicht erklären zu müssen. Wenn sich die richtigen Personen begegnen und in Resonanz treten, stellt sich die Frage nach der Selbstentfremdung gar nicht mehr.
Das Internet macht es leicht, Menschen mit der gleichen Sorte Merkwürdigkeit zu finden, die nicht alle am selben Ort leben müssen. In den späten Neunzigern war ich Mitglied einer spirituellen deutschsprachigen Mailingliste. Zu Beginn lebte ich noch in London, später wieder in Deutschland, sodass ich leichter an jährlichen Treffen teilnehmen konnte. Der Austausch über das gemeinsame Thema war bereichernd und hatte nie das Gefühl, ich müsse mich verstellen. Ich glaube, dass mir der räumliche Abstand zunächst sogar geholfen hat, in diese Gruppe hineinzufinden.
Im Spätsommer 2017 begann ich, bei Challenge22 als Mentorin mitzuarbeiten. Das vegane Leben zieht noch mehr als das Frauenspirithema eine bunte Mischung an ungewöhnlichen Menschen an. Diese Gemeinschaft ist international, offen und hilfsbereit. Weil alle im besten Sinne des Wortes irgendwie weird oder seltsam sind, muss sich niemand rechtfertigen.
Anfang 2018 fand ich die Active Vegans Hamburg. Mit ihnen stehe ich im realen Leben regelmäßig auf der Straße, um mit den Menschen, die stehen bleiben, über Tierrechte zu sprechen.
AVHH hat mich vor Ort abgeholt und mir geholfen, mehr Selbstwirksamkeit zu entwickeln. Diese Menschen gaben mir den Impuls, auch an Demos von Fridays For Future teilzunehmen. Das Dazugehören hat mich in diesem Fall auf eine konstruktive Art verändert. Oder vielleicht etwas hervor geholt, was schon in mir angelegt war.
Bei aller Übereinstimmung ist natürlich immer irgendwas. Zu erwarten, dass es in einer Gemeinschaft nicht menschelt, nur weil die Mitglieder einen großen Teil ihrer Werte und Visionen teilen, ist illusorisch.
Und solange es ein echter Kompromiss ist, ich also anderen ihre Eigenheiten zugestehe und sie mir meine, kann ich gut damit leben. Ich habe mir die Mitgliedschaft ja auch freiwillig ausgesucht.
Endlich wieder normale Leute
Wenn es einen Ort gibt, der für mich dem Ideal „Come As You Are“ am nächsten kommt, dann ist es das Wacken Open Air. Auch hier gibt es Kommentare über das vermeintlich „falsche“ Genre 😀 Die einen fassen sich an den Kopf, wie jemand Powermetal ertragen kann, die anderen sehen in jeder modernen Entwicklung den Niedergang der Metalkultur.
Und gleichzeitig habe ich nirgends so sehr das Gefühl, ich selbst sein zu können, ohne dass es gewertet wird. Die Unterschiede können nebeneinander stehen bleiben und am Ende wird auch mal für eine Band höflich applaudiert, die eigentlich nur die Lücke zwischen zwei „wirklich interessanten“ Acts füllt.
Die Welt ist per du, kommt ins Gespräch und akzeptiert es, wenn jemandem nicht zum Reden zumute ist. Wer fällt, wird aufgehoben. Wenn die Sterne gut stehen, hat sich jemand neben mir die Taschen für die besonders mitreißenden Konzertmomente mit Konfetti gefüllt (siehe Beitragsbild).
Und wenn sich jemand nachts barfuß auf dem Campingplatz verlaufen hat, finden sich immer nette Menschen, die beim Suchen helfen. Egal, ob die verlorene Seele ein Einhornkostüm, ein Hawaiihemd, ein Metalcore- oder ein Death-Metal-Shirt trägt.
Die Überschrift „Endlich wieder normale Leute“ steht immer mal wieder auf Bannern die im Zusammenhang mit Wacken-Veranstaltungen von Teilnehmenden aufgehängt werden. Ich bin bei weitem nicht die Einzige, die es erleichtert, für ein paar Tage im Jahr einen Ort zu haben, wo sie sein kann, wie sie ist. Und wo „normal“ nicht „normiert“ bedeutet, sondern „Menschen, die mir ähnlich sind und einfach nur einen gelassenen und freundlichen Umgang untereinander erwarten“.
Beziehungsstatus: Unkompliziert
Im Mai haben wir Silberhochzeit gefeiert. Zu zweit am Meer, ein paar Tage nur für uns und eine schöne Gelegenheit über Beziehungen nachzudenken. Neben dem glücklichen Zufall, der uns zusammenführte, ist die Grundlage unserer Harmonie, dass wir uns gegenseitig so lassen, wie wir sind.
Wir haben große Übereinstimmungen, was Freizeitgestaltung, grundsätzliche Werte und Ordnungsbedürfnis angeht. In anderen Bereichen sind wir sehr verschieden. Und das haben wir nie versucht zu ändern. Wenn wir nicht mit diesen Unterschieden leben könnten oder sie nicht sogar als bereichernd empfänden, dann hätten gegenseitige Vorwürfe die Beziehung sicher nicht voran gebracht.
Unsere Gemeinschaft zu zweit plus Katze ist mein sicherer Hafen. Hier kann ich loslassen. Ich kann alles sagen was mir auf der Seele liegt und für mich behalten, was ich nicht mitteilen möchte. Ich bin jeden Tag dankbar für dieses alles andere als selbstverständliche Geschenk.
Jenseits der Gesellschaft Dazugehören
Wir sprechen vom Ökosystem Erde oft als „Umwelt“. Dabei vergessen wir, dass wir immer und unzweifelhaft Bestandteil dieses Systems sind. Hier gehören wir tatsächlich elementar dazu, ob wir uns anpassen oder nicht.
Gerade hier führt paradoxerweise das Nichtanpassen an die Kreisläufe und Naturgesetze, dass wir entfremdet sind. Wenn es in einem Netzwerk existenziell wichtig ist, nicht nur auf die eigenen Vorstellungen zu sehen, dann in diesem.
Und gerade hier fühle ich mich noch mehr als in Wacken jederzeit bedingungslos willkommen, und das mehr als nur eine Woche im Jahr. Hier kann ich auftanken und über mich und die Welt lernen, was wirklich wichtig ist. Vielleicht auch, wo meine gefühlten Prioritäten manchmal doch am Großen Ganzen vorbei gehen und was davon ich loslassen könnte.
Deshalb ist es mir so wichtig, den Jahreszeiten bewusst zu folgen und mich in regelmäßigen Abständen mit der Natur in Verbindung zu bringen.
Was kann ich zum Dazugehören beitragen?
Wie sieht jetzt mein Fazit aus? Es gibt ein paar Dinge, die ich beachten kann, um das Dazugehören zur Gesellschaft und zur Welt gesund und nachhaltig zu gestalten:
Ich lerne mich selbst, meine Prioritäten, Bedürfnisse und Werte kennen.
… finde für mich heraus, wie viel Zugehörigkeit und wie viel Zeit mit mir alleine ich brauche.
… lasse meine Seltsamheit strahlen, um andere Menschen zu finden, die mir ähnlich sind.
… wäge gründlich ab, wie viel mir das Dazugehören wert ist und warum und um wie viel ich mich dafür verändern will.
… gestehe anderen Menschen zu, ihr grundsätzliches Wesen nicht für mich zu verändern.
Wenn ich Teil von Schicksalsgemeinschaften bin, in denen ich mich sehr anpassen musst, schaffe ich mir Räume mit anderen Menschen, die mich so aufnehmen, wie ich bin, außerdem Zeit mit mir alleine.
Wenn alle Stricke reißen, gibt es immer noch Bäume zum Anlehnen, das Meer zum Lauschen und Wiesen zum Einsinken 🙂
Wie sieht es bei dir mit dem Dazugehören aus?
Unterm Strich möchte ich zu keiner Gruppe dazugehören, die mich nicht akzeptiert, wie ich im Grunde bin.
Ist für dich das Dazugehören überhaupt ein Thema? Findest du es eher schwierig oder fällt es dir leicht, Anschluss zu finden?
Wie weit passt du dich an, um in einer Gruppe integriert zu sein und wo bleibst du für die eigene Integrität lieber unabhängig?
Vielen Dank noch einmal an Iris Wangermann für diesen wunderbaren Denkanstoß!
Schreibe einen Kommentar