Ich bin beeindruckt von der Themenvielfalt beim Blogparadensommer 25. Die Nikas fragen nach unserem Blick auf den Zusammenhang zwischen Trauma und Gesellschaft. Offensichtlich ein emotionales Thema und gerade deswegen so wichtig.
Mich hat spontan diese Frage sehr angesprochen:
„Wo wünscht ihr euch mehr Sichtbarkeit für komplexe Traumafolgen und warum?“
Die Nikas
Genau darum soll es in diesem Beitrag gehen.
Generationentrauma
Kriegsenkel
Meine Familiengeschichte
Ich wurde 1973 geboren. Und bin damit in der Altersgruppe derjenigen, deren Großeltern den zweiten Weltkrieg miterlebt haben. Was ihnen dort geschehen ist, weiß ich nicht. Mein Gehirn neigt allerdings zu Kopfkino und füllt die Lücken mit plausiblen Details. Meine Opas waren beide als Soldat im Krieg, meine Oma väterlicherseits ist aus Hinterpommern geflohen, die zweite Oma ist aus Berlin nach Schleswig-Holstein gezogen. Da fällt mir eine Menge ein.
Meine Eltern sind beide aus dem Jahr 1949. Mit ihnen sind viele Kinder aufgewachsen, die selbst keinen Krieg mehr erlebt haben, deren Väter und Mütter aber seelisch verletzt waren. Manche mehr, manche weniger, wohl niemand gar nicht.
Der Definition des Vereins der Kriegsenkel nach wären meine Eltern selbst auch Kriegsenkel, weil sie kurz nach Kriegsende geboren wurden. Für die Weitergabe des Traumas ist die Kategorisierung auch eher unerheblich. Wie sich das Kriegstrauma bei ihnen in Form von Gewalt fortgesetzt hat, weiß ich. Es ist für mich unvorstellbar und gleichzeitig immer in meinem Unterbewusstsein präsent.
Das Patriarchat und andere Diskriminierungen haben noch zusätzlich ihren Teil dazu beigetragen. Was bei und nach Geburten vom medizinischen Personal an Traumata ausgelöst wird, ist noch eine extra Geschichte für sich.
Meine Geschwister und ich wurden so gut wie gar nicht geschlagen. Und zwar, weil meine Mutter sich bewusst entschieden hat, dass dieses Erbe nicht weitergehen sollte. Gleichzeitig hat sie uns von sehr klein auf nachmittäglich plastisch von vergangenen Gewalterfahrungen und Diskriminierungen erzählt. So sucht sich die traumatische Erfahrung ihre Bahn.
Einerseits ist mir selbst „nichts passiert“. Andererseits hatte die kleine Angela diese Filme im Kopf, die heute noch in mein Verhalten hinein wirken. Das ist bis vor kurzem nicht angesprochen worden, und ich bin gerade erst dabei, es für mich aufzuarbeiten. Mir zuzugestehen, dass auch ohne körperliche Gewalt die Verletzungen meiner Großeltern bis zu mir durchgesickert sind.
Was ich gelernt habe: Oft sind Menschen sowohl Betroffene als auch Auslöser traumatischer Erlebnisse. Sie sind keine grundsätzlich schlechten Menschen. Und gleichzeitig sind sie verantwortlich für ihr Verhalten anderen gegenüber. Ich bin weder alleine zuständig für ihr Wohlbefinden, noch kann ich erwarten, dass sie sich immer rational verhalten. Ich bin dafür zuständig, auf die erwachsene Angela aufzupassen.
Und natürlich werden auch nicht alle traumatisierten Menschen Auslöser von Traumata bei anderen. Unterschiedliche Menschen reagieren unterschiedlich und sind auch unterschiedlich resilient. Es ist mal wieder alles komplizierter.
Und das alles ist leicht gesagt. Es muss allerdings erst wirklich auf allen Ebenen ankommen und immer wieder wiederholt werden.
Trauma und die Geschichte der Menschheit
Und das alles nur, weil ein paar wenige Menschen meinen, Länder in Kriege stürzen zu müssen. Für nichts. Millionen Menschen verletzt, auf Generationen. Und das scheint bei uns Menschen leider der Normalfall zu sein. Dass wir in Europa jetzt so lange Frieden hatten, ist global und geschichtlich eher die Ausnahme. Wenn über die EU geschimpft wird, dann wissen wir manchmal gar nicht zu schätzen, in welcher Ruhe wir hier leben.
Wir sind Lebewesen mit einem hohen Grad an Bewusstsein. Daher hätten wir eigentlich die Möglichkeit, Konflikte anders zu lösen. Außerdem wirken sich körperliche und seelische Verletzungen bei uns Menschen vermutlich besonders vielschichtig aus. Im Verhalten, in Gedanken und auch auf der genetischen Ebene.
Wenn ich zurückblicke auf die Jahrtausende und mir vorstelle, wie viel wir uns sinnlos gegenseitig traumatisiert haben, macht mich das traurig und wütend. Natürlich gab es auch viel Erfreuliches und Konstruktives. Und doch: Wo könnten wir als globale Gesellschaft ohne Krieg, Wettrüsten, Sklaverei und Ausbeutung und den Kreislauf von Angriff, Rache und Vergeltung sein? Wie viel Potential für ein gutes Leben für Alle wurde bisher verschenkt?
Wie ist ein Generationentrauma zu stoppen?
Aus meiner Erfahrung heraus braucht es Menschen, die Nein sagen. Die sich bewusst entscheiden, Verletzungen nicht an die nächste Generation durchzureichen.
Diese Personen brauchen außerdem genug Unterstützung. Denn es reicht nicht, in einem brüchigen Deich eine Stelle zu flicken, wenn der Druck dann an anderer Stelle durchbricht. Es braucht Kenntnisse über die Mechanismen, ein Bewusstsein dafür, wie viel Traumata in der Gesellschaft vorhanden sind, ohne dass wir sie sehen.
Mit anderen Worten: Es braucht viel mehr umfassende und gezielte Angebote für Therapie. Und der Ansatz dabei sollte im Zweifel die Weitergabe über Generationen im Blick haben.
In einem weiteren Beitrag zu der Blogparade „Trauma und Gesellschaft“ fand ich eine hilfreiche Liste. Merlin der Zauberkater schrieb darüber, was im Umgang mit traumatisierten Menschen wichtig ist. Einer der Punkte lautete:
„Denkt Trauma immer mit, auch wenn euch nicht bekannt ist, ob die Person, die vor euch sitzt, Gewalt erlebt hat.“
Merlin der Zauberkater
Und das ist mir wichtig: Wir sehen es nicht, was andere Menschen mit sich herum schleppen. Im Zweifel ist davon auszugehen, dass zum Beispiel die Kriegsenkelthematik alle Menschen einer Reihe von Jahrgängen betrifft. Andere Traumata kommen dann noch dazu. An dieser Stelle ist Merlins Rat auch für mich eine Erinnerung daran, wie ich eigentlich mit Menschen umgehen möchte.
Bonus Short Story
Diese Geschichte stammt aus meiner Flash-Fic-Challenge im April 2023. Der Prompt war „Flash“ und die geforderte Wortzahl 300.
Was sich dazu bei mir ergab, ist zum Teil autobiografisch, zum Teil ein Blick auf die Menschheitsgeschichte.
„A legacy of blood and fire passed on through centuries.“ (Entsprechende Warnung: Gewalt und Tod)
Spark of Humanity
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A woman squats beside the fire, her gaze fixed on the stones in her hands. One is heavy, the other sharp. She hits the flint blade one last time, smiling at the sparks. She is ready for the next attack.
At dawn, the king rides in front of his army. They know the enemy is behind the hills. They know there is little hope for this battle to bring them victory after years of war. Still, the king raises his sword, catching the sunlight. They roar and run forward.
In the trenches, a soldier reads letters from home. The ink is almost worn away and the paper is thin from folding and unfolding. He is so immersed in the words of love that he only sees the streak of light seconds before it hits the ground. The grenade explodes a safe distance away from him. Shortly afterwards, he hears the screaming.
The streets are decorated in black, white and red. Young men march to the music of a military band. They parade past their families, their boots polished to an immaculate shine, blinding their eyes to what lies ahead.
On a Wednesday, a soldier who never signed up for any of this, runs from a house, his eyes wide. He throws up against a tree. In his mind he replays the way the flames reflected on the pool of blood.
The same man, a father now, pulls the belt from his trousers and holds the gleaming buckle in his shaking hand. His daughter has no idea why this happens every Wednesday.
The same daughter, a mother now, sees her son squatting beside a pile of shards. His eyes glisten with tears. She grips the broomstick hard and makes a decision.
‘I’ve never liked that vase. Come, give me a hug.’
Was müsste sich im Bereich Trauma und Gesellschaft ändern?
Wie nehmen wir Kriege wahr?
Bei mir persönlich nehme ich die Folgen des zweiten Weltkrieges wahr. In meinem Verhalten, meinen Reflexen, meinem Denken. Das ist nicht alles, was mich ausmacht, trotzdem hat es eine Wirkung.
An jedem Tag findet irgendwo auf der Welt Krieg statt. In Deutschland habe ich das Privileg, mich selbst zu schützen, indem ich meinen Nachrichtenkonsum reduziere. Und selbst die Meldungen, die ich sehe und höre werden für uns vorsortiert. Wir bekommen aus guten Gründen nicht alle Details und nicht alle Bilder präsentiert.
Die Menschen in Kriegsgebieten haben diesen Luxus nicht. Ihre Kinder sind direkt von Kriegshandlungen betroffen. Und indirekt haben sie damit auch weniger Zugang zu Bildung. Das ist nur ein weiterer Punkt, der sich negativ auf ihre Zukunftsaussichten auswirkt. Und über den ich als Lehrerin oft nachdenke.
Wir sehen aktuelle Kriege durch mehrere Filter. Das macht unsere eigene Hilflosigkeit besser erträglich. Uns nicht ungebremst der ganzen Brutalität auszusetzen ist gesund und wichtig. Und gleichzeitig ist uns dadurch weniger deutlich bewusst, dass die heute betroffenen Menschen in genau der Lage sind, in der meine eigenen Großeltern seelisch zutiefst verletzt wurden.
Ein persönliches Beispiel: Ich habe eine Zeitlang über die VHS Deutsch für geflüchtete Menschen unterrichtet. Vorher hospitierte ich eine Stunde bei einer Kollegin. Mittendrin kam die Leiterin der VHS dazu und fragte für ihre Akten ein paar Informationen ab. Die Schüler:innen aus Eritrea sagten durch die Bank, dass sie von Beruf Soldat:in waren.
An der Stelle lief es mir kalt den Rücken herunter. Vorher waren es für mich einfach Personen gewesen, die Deutsch lernten. Vorher hatte ich das Privileg, mir bei ihnen nicht vorzustellen, was sie alles erlebt haben könnten.
Wie gehen wir mit Menschen aus Kriegsgebieten um?
Der erste Weltkrieg hat bei mir noch spürbare Folgen. Und gleichzeitig haben meisten von uns bei Menschen, die vor dem Krieg nach Deutschland flüchten, nicht auf dem Schirm, wie akut die erfahrene Gewalt bei ihnen präsent ist. Und wenn sie aus anderen Gründen geflüchtet sind, haben sie auch oft Unvorstellbares auf dem Weg nach Europa oder Deutschland erlebt.
Alle diese Menschen psychologisch zu betreuen ist nicht realistisch. Auf der anderen Seite geht es für mich bei der Debatte um Silvesterfeuerwerk los. Da wiegt bisher die (gar nicht mal so lange) Tradition und das Bedürfnis eines Teils der Gesellschaft, mit Sprengstoff zu hantieren, mehr als das Bedürfnis kriegstraumatisierter Menschen, eine Nacht ohne Explosionen zu verbringen.
Wir muten ihnen Bürokratie zu, die wir selbst schrecklich fänden. Wir verweigern ihnen jahrelang die Arbeitserlaubnis und damit einen strukturierten Alltag. Selbst wenn es nicht möglich ist, alle Menschen aus Kriegsgebieten therapeutisch aufzufangen, es gibt eine Menge Dinge, die wir ändern könnten. Und die oft ein Gewinn für die Gesellschaft insgesamt wären. Wenn wir länger darüber nachdenken, fallen uns bestimmt noch mehr ein.
Was tun wir für Frieden?
Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann wäre es Frieden für alle. Leider habe ich keinen Wunsch frei. Und leider verdienen zu viele Menschen zu gut daran, dass es keinen Frieden gibt. Außerdem gibt es mehrere scheinbar unlösbare regionale Konflikte, an denen wir als Privatpersonen nichts ändern können.
Wir können bei uns im Kleinen anfangen. Friedlich mit unseren Mitmenschen umgehen. Und bei unseren politischen Vertreter:innen friedensfördernde Maßnahmen einfordern. Wenigstens mal wieder Briefe an unsere Abgeordneten schreiben.
Was ist uns grundsätzlich möglich?
Aus meiner Sicht ist es wichtig, überhaupt ein Bewusstsein für das Thema Trauma und Gesellschaft zu haben. Uns zu informieren. Über eigene Traumata zu reden, wenn wir uns dafür sicher genug fühlen. Anderen Menschen Raum und Sicherheit zu geben für ihre Geschichten. Immer noch einmal wieder Merlins Liste zu lesen.
Gegenseitiges Wohlwollen steht uns auch zur Verfügung. Manchmal kann ich aus Selbstschutz nicht so für andere da sein, wie sie es gerne möchten. Manchmal fühlt sich für mich etwas als Zurücksetzung an. Und dann ist es möglich, dass die andere Person einfach mit ihren eigenen inneren Kämpfen ausgelastet ist. Das auf dem Schirm zu haben, Nachsicht mit sich und anderen zu haben und auf der anderen Seite das zu geben, was wir geben können, würde schon vieles leichter machen.
Das ist tatsächlich etwas, was ich in meiner Coaching-Ausbildung gelernt habe: Davon auszugehen, dass hinter dem Verhalten anderer meistens steht, dass sie versuchen, für sich etwas sicher zu stellen. Und dass sie im Rahmen ihrer Kapazitäten handeln. Selbst wenn wir gleichzeitig für uns das Verhalten an sich nicht akzeptieren und uns mit gutem Recht abgrenzen. Weil wir dafür zuständig sind, für uns etwas sicher zu stellen. Wie gesagt, diese Weisheit muss dann allerdings in einer herausfordernden Situation erst einmal greifbar sein.
Was steht einem gesunden Umgang mit Traumata im Wege?
Wir müssten erst einmal einsehen, wie viel seelische Verletzungen es in der Menschheit gibt. Da hinzugucken ist schmerzhaft. Und dann müssten wir auch als Gesellschaft grundlegend etwas ändern. Und die Aussicht auf Veränderung macht oft Angst, die uns blockiert.
Manchmal ist der Abstand auch Selbstschutz. Wenn wir nichts ändern können und selbst nicht stabil genug sind, helfen wir der anderen Person nicht, sondern verletzen unsere eigenen Seelen zusätzlich.
Gleichzeitig ist die Frage, wann der Selbstschutz kippt und das Nichthinsehen zur bequemen Gewohnheit wird. An der Frage, wie ich mich isolieren kann, ohne mich zu isolieren, knabbere ich schon ewig. (Das Wortspiel funktioniert auf Englisch besser 😉)
Was fällt dir zu Trauma und Gesellschaft ein?
Mich beschäftigt die Thematik schon lange und ich kann noch nicht absehen, wann ich das alles für mich verstanden habe.
Wie ist dein Verhältnis zum Konzept der Kriegsenkel, der aktuellen Kriege und zum Umgang mit traumatisierten Menschen insgesamt?
Mich würden dieses Mal deine Gedanken besonders interessieren. Auf jeden Fall vielen Dank fürs Lesen!
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