Eigentlich hatte ich Claudia Kielmanns Blogparade gar nicht auf der Liste. Und dann hat mich Sylvia Tornaus Beitrag so berührt, dass mich das Thema nicht mehr losgelassen hat. Andere Menschen hatten ihr im Zusammenhang mit einem Konflikt vorgehalten, dass sie „vergeben müsse“. Ihre unmittelbare Reaktion darauf kann ich so gut nachfühlen:
„Ich hatte doch den Schaden und jetzt sollte ich auch noch die Arbeit leisten, denen, die mir schadeten, zu vergeben?“
Sylvia Tornau
Genau das empfinde ich auch als anstrengend. Wenn Außenstehende es gut meinen und zur Vergebung raten, diese als entscheidenden Schritt zur Heilung und zum Loslassen präsentieren. Ist es das, was mit Loslassen gemeint ist?
Was
Allgemein
Da geht es schon kompliziert los. Es gibt eine Reihe von Dingen, Personen, Gefühlen, Wünschen oder Glaubensätzen, die wir loslassen können. Alleine die Vorstellung davon, was Loslassen eigentlich ist, scheint mir individuell zu sein.
Für Kinder läuft es noch darauf hinaus, die Hand der Eltern loszulassen, wenn sie alleine laufen, Fahrrad fahren oder schwimmen lernen. Sich nicht mehr festhalten zu lassen hat etwas von der Gewissheit, sich aus eigener Kraft halten zu können.
Bei Erwachsenen geht es manchmal auch um das Bedürfnis nach Halt und Sicherheit. Wir halten uns an liebgewonnenen Gegenständen und Gewohnheiten fest, weil wir uns oder der Welt nicht so recht über den Weg trauen und die Veränderung scheuen. Nicht umsonst gibt es stapelweise Ratgeber zum äußeren Entrümpeln für innerliche Aufgeräumtheit.
Oft halten wir aber an Bitterkeit fest. An der Erinnerung daran, was jemand mit uns gemacht hat. Oder an das, was wir zugelassen haben.
Persönlich
Gerade letzte Nacht träumte ich unerwartet von einem Mitschüler. Vor vielen Jahren hat er mir mal im Physikunterricht einen abwertenden Spruch verpasst. Anscheinend beschäftigt mein Unterbewusstsein das noch immer, obwohl ich diesen Menschen seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen habe.
Aus meiner Zeit als Lehrerin trage ich Erinnerungen mit mir. Vieles davon war sehr bereichernd. Und einiges davon hat mir den Schulalltag so vergiftet, dass ich gekündigt habe, um mir keinen Panzer zulegen zu müssen.
Es betrifft auch Menschen, die mir näher stehen. Von denen würde ich mir wünschen, dass sie erstens realisieren, wie sich ihr Verhalten auf mich als Kind ausgewirkt hat. Und dass sie mir sagen, dass es ihnen leid tut. Das sind gar nicht immer dramatische Erlebnisse gewesen, teils aber arbeite ich noch heute daran. Besonders dann, wenn diese Menschen Teil meines Lebens sind und ich daran nicht grundlegend etwas ändern möchte.
Um auf Sylvia Tornaus Zitat zurück zu kommen: Mir geht es nicht um Vergebung. Meine Priorität ist beim Loslassen nicht die Wiederherstellung der Beziehung zu einem anderen Menschen, sondern meine eigene Entlastung. Wenn ich durch diese Erleichterung mit der anderen Person wieder besser in Kontakt treten kann, ist das ein positiver Nebeneffekt. Es kann auch sein, dass ich bei der Gelegenheit auch die Person mit loslasse. In manchen Fällen ist das für mich die beste und gesündeste Lösung.
Warum
Wir können Freiheit und Raum für Neues gewinnen, wenn wir Dinge und Verhaltensweisen loslassen, die nicht mehr in unser Leben passen oder uns von einer Weiterentwicklung abhalten.
Beim Loslassen von Bitterkeit ist der Effekt noch heilsamer. Das folgende Zitat wird einer Reihe von Menschen zugeschrieben:
„Holding a grudge is like drinking poison and expecting the other person to die.“
Besonders bei ehemaligen Schülern merke ich diesen Effekt deutlich. Ein paar Einzelpersonen hatten wohl das Bedürfnis, ihre eigene Unzufriedenheit bei mir loszuwerden, auch eine Form des Loslassens. Wenn ich mich heute an diese Erlebnisse erinnere und daran, wie Kolleg:innen mich damit hängen ließen, bin ich die Einzige, die das herunter zieht. Ich gehe nicht davon aus, dass meine nachträgliche Wut und meine Träume bei diesen Menschen irgendetwas auslösen. Da habe ich also die Wahl, die Giftflasche wieder wegzustellen, oder doch nochmal einen Schluck daraus zu trinken.
Genauso ist die ewige Hoffnung auf ein Einsehen und eine Bitte um Entschuldigung von mir wichtigen Menschen. Wenn das bisher bei ansonsten besten Absichten nicht passiert ist, dann fehlt es ganz offensichtlich an der Kapazität dazu. Welche Gründe sie auch immer haben, ich bin diejenige, die das Festhalten an diesem Wunsch umtreibt. Ich erreiche damit nichts außer meiner eigenen schlechten Laune und einer Hinderung meiner eigenen persönlichen Entwicklung.
Festhalten sowohl an alten Verhaltensweisen als auch an Bitterkeit ist rückwärtsgewandt. Das Leben verläuft in Richtung Zukunft. Das muss mir bei meiner Entscheidung für oder gegen das Loslassen bewusst sein.
Und wenn ich mich aus Verstrickungen löse, kann ich dabei das Neinsagen üben. Wenn ich dabei meine Grenzen kennenlerne und stabilisiere, halte ich meine eigene Hand und sage zu mir selbst immer mehr Ja.
Wann
Das Loslassen hat wieder mal viel Gleichzeitigkeit. Aus meiner Sicht kommt der impuls dafür von innen. Als Außenstehende kann ich mir noch so sehr wünschen, dass jemand aufhört, sich an tragische Erinnerungen zu klammern, oder dass diese Person realisiert, wie viele Möglichkeiten ihr offen stehen, wenn sie sich bewusst der Zukunft zuwendet. Ratschläge zum Loslassen und zur Vergebung sind oft gut gemeint aber eher nicht gut gemacht.
Ein Kind lässt dann die Hände der Eltern los, wenn es innerlich genug eigene Stabilität und Zuversicht hat. Dann wird es vielleicht noch einige Male fallen, und dabei im Ideal immer mehr ein Gefühl für den richtigen Moment zum Loslassen entwickeln.
Ist es nicht interessant, wie viele von uns das als Erwachsene verlernt haben? Wie unsere rationalen Anteile wissen, dass wir die Fähigkeit zum nächsten Schritt haben, andere Teile in uns sich danach sehnen. Und wie sich oft diejenigen Anteile durchsetzen, die einfach Angst vor dem Ungewissen haben?
Hier wird es paradox: Die Angst steht dem Loslassen im Weg. Gleichzeitig realisieren auch die ängstlichsten Persönlichkeitsanteile erst im Moment des Loslassens, dass ich schon lange die nötige Stabilität und Kompetenz zum nächsten Schritt hatte. Oder dass die Freiheit genau das war, was dem ganzen Team gefehlt hat. Das das Alte eigentlich gar nicht mehr getragen hat, dass die Halteseile eigentlich Illusion waren.
Ein bisschen muss ich mich also am eigenen Schlafittchen aus dem manchmal selbst veranstalteten Morast ziehen. Oder wie Sylvia es sagt, ich habe zuerst den Schaden und dann noch die Arbeit des Reparierens. Es wäre in mancher Beziehung schön, wenn wir Menschen einfacher gestrickt wären. Und dann wären wir nicht mehr die, die wir sind 😉
Wie
Theoretisch
Auch wenn es paradox ist, ist es möglich. Das zeigt uns die Erfahrung und die Anschauung bei vielen Menschen um uns herum. Wenn wirklich der richtige Moment gekommen ist, können wir loslassen.
„And the day came when the risk to remain tight in a bud was more painful than the risk it took to blossom.“
Anais Nïn
Was wir brauchen ist Vertrauen. In uns selbst, in den Prozess und in Menschen, die hoffentlich bei uns sind und uns den Raum zum Loslassen geben und halten.
Außerdem ist Loslassen oft keine einmalige Veranstaltung. Manches, von dem wir glauben, es hinter uns gelassen zu haben, taucht wieder auf. Und sei es nur in Träumen vom Physikunterricht vor diversen Jahrzehnten. Die gute Nachricht ist: Wir können immer wieder loslassen und jedes Mal eine Schicht des Festhaltens abtragen. Wichtig ist es, dass wir uns nicht selbst unter Druck setzen. Ein bisschen Absichtslosigkeit üben.
Praktisch
Ich persönlich habe schon oft rituell durch Verbrennen losgelassen. Manchmal waren das kleine Stücke Papier, auf die ich etwas geschrieben hatte. Richtig stimmungsvoll und effektiv habe ich es erlebt, wenn ich geleerte Teebeutel als Rolle aufgestellt und oben angezündet habe. Die steigen dann beim Abbrennen auf wie jedenfalls bei mir im Kindergarten die Krepppapierrakete zum Geburtstag. Es eignen sich nicht alle Teebeutelsorten gleichermaßen, vorher würde ich einen nichtrituellen Funktionstest machen 😉
Mein Wunsch nach Verständnis und nach der Bitte um Entschuldigung scheint sich aktuell tatsächlich aufzulösen. Erstens durch die Eskalation eines Streites im Januar, der sich im Nachhinein großenteils als Ansammlung von Missverständnissen herausstellte. Plus für mich der Beleuchtung des alten Grolls. Zu er Zeit kam ich mit meinem Festhalten an einem Punkt an, an dem es einfach nicht mehr tragbar war.
Zweitens habe ich inzwischen realisiert, dass das Verhalten, das ich mir wünsche, von der betreffenden Person nicht zu erwarten ist. Und das sage ich nicht im Groll, sondern neutral beobachtend. Weil ich in der Bilanz nicht die ganze Person loslassen will, werde ich für mich einen Weg finden, der kleinen Angela das zu geben, was sie gebraucht hätte, um im Heute sicherer und beziehungsfähiger zu sein.
Wie hältst du es mit dem Loslassen?
Was ist für dich überhaupt Loslassen? Wie hängt es, falls überhaupt, mit Vergebung zusammen? Hast du praktische Empfehlungen zum effektiven Loslassen? Ich bin immer offen für neue Möglichkeiten und Ansichten zum Thema 🙂
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