Das Feiern der Vergänglichkeit
Es ist offiziell noch nicht Winter, aber zusätzlich zur astronomisch bedingten Abnahme der Lichtstunden auf der Nordhalbkugel hat die Zeitumstellung hier in Deutschland spürbar dazu beigetragen, dass mir immer wieder Nachmittags um 17 Uhr besonders deutlich wird, dass sich die dunkle Zeit wieder gemütlich breit macht. Zum Herbstanfang begeisterte mich noch der Start des alljährlichen Farbspektakels der Bäume in meiner Umgebung, jetzt liegen viele der ehemals leuchtenden Blätter auf dem Boden und werden dort zu braunem Matsch transformiert. Die Luft riecht nach Pilzen und Kompost und in meinem Gemüsebeet ist quasi nur noch der Grünkohl übrig geblieben. Die Bäume hier präsentieren die komplette Skala von noch einigermaßen grün über golden aber schon amtlich gerupft bis hin zu ziemlich nackt. Dabei hängt der Nacktheitsgrad nicht nur von der Baumart ab, manche erwischt es einfach früher, je nach Standort und Windeinfall.
Der Tod als Bestandteil der Evolution
Das aktuelle Thema ist nicht zu leugnen: Im Jahreskreis direkt gegenüber dem befruchtungsfreudigen 1. Mai präsentiert die Natur uns jetzt den Prozess der Zersetzung. In der Evolution basiert die Weiterentwicklung von Arten und Ökosystemen auf dem Ende einzelner Individuen und anderer Arten, ohne den Tod wäre in einer Welt mit begrenzten Ressourcen ein Fortschritt bald nicht mehr möglich. Und so wichtig die Durchmischung der Gene im Mai auch war, so wichtig ist es auch, die Bausteine einiger Organismen zu recyclen, um neue Lebewesen damit zu ernähren. Die Hochzeit und das Verrotten ergänzen sich als perfekte Gegensätze.
Mythen und Traditionen
Auch in diesem Jahr wird am 31.10 Halloween gefeiert. Dieser eher moderne Gruselbrauch fällt zusammen mit Allerheiligen und Allerseelen, dem Gedenken an verstorbene Heilige und Nichtheilige. Der protestantische Totensonntag findet allerdings erst am letzten Sonntag vor dem Advent statt. In Mexiko ist diese Tradition besonders lebhaft verwurzelt, aber auch in anderen Regionen sind alte Bräuche zum Thema Vergänglichkeit um diese Zeit herum sehr plausibel, ob sie nun bei den alten keltischen und germanischen Stämmen wirklich unter den Bezeichnungen Samhain beziehungsweise Álfablót gefeiert wurden oder nicht. Die jahreszeitlichen Gegebenheiten und die Notwendigkeit, zum Jahresende die Tierherden auf eine Zahl zu reduzieren, die durch den Winter gebracht werden konnte, machte den Tod sicherlich damals Anfang November besonders sichtbar und sehr wahrscheinlich feierwürdig.
Dankbarkeit für meine Wurzeln
Manches Alte lassen wir gerne los, weil es einfach Zeit ist, manches wird uns stürmisch aus der Hand gerissen. Manche Menschen gehen gefühlt weit vor ihrer Zeit und manche Beziehungen verwelken unerwartet vor unseren Augen. Einiges haben wir in der Hand (vor allem unsere Haltung zum Loslassen), vieles aber auch nicht. Der Kreislauf hält eben nicht auf unseren Wunsch an. Für mich ist in dieser Zeit sehr viel Dankbarkeit dran, und zwar eine andere Form als die über eine reiche Ernte. Ich bin eher dankbar für diejenigen Lebewesen, die vor mir gegangen sind.
Nicht umsonst steht mein Symbol für das aktuelle Fest auch für einen Familienstammbaum: Vor Millionen von Jahren lebten Wegbereiter für Wesen wie mich, viel später meine mehr oder weniger direkten Vorfahren, deren DNA ich zu großen Anteilen in mir trage. Aber auch die kulturelle Entwicklung der Menschen macht mich dankbar: Wir fallen nicht bei jeder Runde wieder auf Null zurück. Die, die vor uns da waren, haben uns Erfindungen und Kenntnisse hinterlassen. Sie haben in unseren Gesellschaftssystemen Rechte durchgefochten, von denen ich heute profitiere.
Was bleibt, ist der resiliente Kern
So traurig ein kahler Baum auch aussieht, nicht er ist gestorben, sondern die Blätter, die sich unter ihm in ihre Bestandteile auflösen. Alles, was nicht gebraucht wird, wird heruntergefahren. Der Stamm und die Äste bleiben stehen, resilient und für die kalte Zeit gewappnet. Mit dem Kompost zu seinen Wurzeln stellt der Baum dann den Neustart im nächsten Jahr sicher. Entsprechend ist der Novemberanfang für mich Anlass abzuklopfen, was meine resilienten Anteile sind: Was bleibt eigentlich, wenn meine losen Blätter abgezaust werden? Wo habe ich ein starkes Rückgrat und solide Wurzeln?
Wie sieht es bei dir aus?
Wie zeigt sich aktuell die Natur dort, wo Du lebst? Sind überhaupt noch viele Tiere zu beobachten? Wie ist das Verhältnis der belaubten zu den kahlen Bäumen? Was hast Du von Deinen Vorfahren an Eigenschaften geerbt? Was hättest Du gerne behalten, was betrauerst Du? Wo siehst Du Deine eigenen resilienten Anteile? Wie ist ganz allgemein Dein Verhältnis zur Transformation von Gewohntem zum Dünger für die Zukunft? Was in der Geschichte der Menschheit macht Dich dankbar?
Hier habe ich eine Meditation zum Thema Ernten und Bilanzziehen hochgeladen. Vielleicht ist es ja noch einmal tiefgehender, die Fragen zum 1. August in einer anderen Weise auf sich wirken zu lassen.
Dieser Artikel bezieht sich übrigens auf diesen Hauptblogpost. Im Laufe des Jahres 2020 werde ich für jeden Termin einen weiteren Artikel dazu fügen. Sei also gespannt auf den 21. Dezember!
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