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woke: Nahaufnahme von einem Wecker, die Zeiger stehen auf wenige Minuten vor zwölf

Woke – Bin ich das?

Ich hörte neulich eine spannende Podcastfolge von „Nach den Rechten geschaut“. Dabei ging es um das Adjektiv „woke“ als Kampfbegriff. Bei der aktuellen Lage der Weltpolitik ist dieses Thema gleichzeitig nerviger und dringender als je zuvor.

Ich benutze den Begriff nicht als Selbstbezeichnung. Aus diversen Gründen. Aber sollte mich jemand woke nennen, wäre ich nicht beleidigt, selbst wenn das die Absicht der anderen Person gewesen wäre.

Was bedeutet woke offiziell?

Historisch stammt der Begriff aus dem afroamerikanischen Sprachgebrauch der 1930er.“Stay woke“ forderte Menschen buchstäblich auf, wachsam zu bleiben für ganz reale systemische Diskriminierungen.

Das verwendete Adjektiv ist damit eine Slangvariante von „awake“ und wurde entsprechend in Liedern und Gedichten über Rassismus verwendet. Wer sich einer Gefahr bewusst ist, kann sich mit anderen Betroffenen solidarisieren und konstruktiver reagieren.

Mit der Black-Lives-Matter-Bewegung war wieder häufiger davon zu hören. Einige Fälle von Polizeigewalt lösten eine Welle von Protesten aus, die das Rassismusproblem wieder in das allgemeine Bewusstsein rückten.

Seit 2017 steht „woke“ im Oxford English Dictionary. Die frei verfügbare Plattform Oxford Learner’s Dictionaries weist darauf hin, dass es neben der historisch offiziellen Bedeutung noch eine spätere Verwendung gibt:

“aware of social and political issues and concerned that some groups in society are treated less fairly than others

This word is often used in a disapproving way by people who oppose new ideas and political change and think that some other people are too easily upset about these issues.“

Oxford Learner’s Dictionaries

Hier sehen wir, warum die Debatte um dieses Wort so anstrengend ist. Wir haben mindestens zwei Bedeutungen, und verschiedene Personengruppen argumentieren auf verschiedenen Ebenen. Dieser Prozess der Neubesetzung hat System und Geschichte.

Rechte Kampfbegriffe

Es gab vorher schon ähnliche Strategien mit den Wörtern „Gutmensch“ und „politisch korrekt“. Ähnlich wie Orwells Doppeldenk transportieren diese vordergründig positiven Begriffe meistens Verachtung und Verurteilung.

Gutmensch

Der angebliche „Gutmensch“ wird gar nicht als gut gesehen, sondern als nicht ins System passend mit seiner oder ihrer Ethik. Mit den zu hohen Ansprüchen. Vor allem schwingt der Vorwurf der Doppelmoral mit, als ob die moralisch konsequente Grundhaltung nur zu Showzwecken eingenommen würde.

Wenn wir sehen, dass sich jemand so verhält, wie wir es eigentlich vorbildlich finden, reagieren wir Menschen oft irrational wütend. Denn wenn wir selbst uns nicht so verhalten, entsteht in uns häufig eine unangenehme kognitive Dissonanz. Und dieses Unwohlsein nutzen Populisten aus.

Meines Wissens war Gutmensch nie Selbstbezeichnung. Im Gegensatz zum urspünglichen „woke“ war der Begriff vermutlich zuerst als eine Art Witz gedacht. Später übernahmen rechte Strömungen das Wort „Gutmensch“ so flächendeckend und hämisch, dass es 2015 zum „Unwort des Jahres“ gewählt wurde:

„Die Verwendung dieses Ausdrucks verhindert somit einen demokratischen Austausch von Sachargumenten. Im gleichen Zusammenhang sind auch die ebenfalls eingesandten Wörter „Gesinnungsterror“ und „Empörungs-Industrie“ zu kritisieren.“

Institut für Germanistische Sprachwissenschaft

Politische Korrektheit

Mit der politischen Korrektheit ist es ähnlich. Der Ausdruck tauchte schon 1793 auf, zum ideologischen Schlagwort entwickelte er sich im 20sten Jahrhundert. Auch dieser Begriff wird meiner Ansicht nach heute praktisch nur abwertend verwendet. Ich kenne niemanden, der/die sich selbst oder das eigene Verhalten als „politisch korrekt“ bezeichnen würde.

Auch „politisch korrekt“ steht heute für überzogene Forderungen, die angeblich selbsternannt politisch korrekte Personengruppen der Bevölkerung angeblich diktieren wollen.

Ziel der Kampfbegriffe

Woke ist nur eine weitere in einer langen Reihe von strategisch verwendeten Worthülsen. Das Ziel ist in allen Fällen meiner Ansicht nach nicht die Kritik von zu hohen ethischen Vorstellungen.

Menschen wie Markus Söder wiederholen Worte wie „Wokismus“ immer und immer wieder, um sie mantraartig in die Gehirne der Zuhörenden zu schleifen. Diese Art der Kommunikation ist unehrlich und spielt absichtlich mit unscharfen Bedeutungen.

Es werden Feindbilder entwickelt und über Forderungen gesprochen, die nur ein Zerrbild der Realität sind, die aber beim Publikum direkt Ängste ansprechen.

Die Ergebnisse sind

  • eine Verunsicherung in den Bedeutungen von Ausdrücken
  • eine verzerrte Bewertung von Verhalten und Haltungen
  • und eine Destabilisierung des Zusammenhaltes.

Warum ich nicht woke bin

Erstens bin ich nicht Teil der Personengruppe, die mit diesem spezifischen Slangausdruck auf ihre Unterdrückung reagierte. In ihm schwingen mehrere sprachgeschichtliche Ebenen mit. Für mich wäre der Effekt ähnlich wie bei Erwachsenen, die Jugendausdrücke für sich nutzen.

Es mag Menschen geben, die diesen Ausdruck zurück erobern und wieder positiv besetzen wollen. Dazu fehlen mir die Energie und die Motivation. Außerdem gibt es meiner Meinung nach genügend alternative Adjektive und Beschreibungen meiner Haltung.

Was bin ich stattdessen?

Wie ich mich in diesem Zusammenhang beschreibe: Offen für Menschen mit anderen Lebensentwürfen. Aufmerksam für systemische Ungerechtigkeit. Solidarisch mit weniger privilegierten Menschen. Mir meiner eigenen Privilegien bewusst.

Ich sehe mich als Person mit Anstand, Empathie und Lernbereitschaft. Die Furchtlosigkeit der Bürgerrechtsbewegung des 20sten Jahrhunderts fehlt mir leider. Ich lasse mich von Gewaltandrohung und autoritärem Auftreten einschüchtern. Das ist vermutlich wirklich nicht woke.

Mir ist es wichtig, in der Debatte eins klar zu machen: Was Populisten von rechts kritisieren, ist kein Aufzwingen von übertriebener Tugend. Sondern die Solidarität, die es ihnen schwerer macht, die Bevölkerung zu entzweien. Wenn wir uns künstlich in Lager aufspalten lassen, sind wir leichter zu regieren. Es ist ähnlich wie mit den polarisierenden Fragen, über die ich 2024 bloggte.

Je öfter wir also klar sagen, dass es in Wirklichkeit nur um Anstand und Mitmenschlichkeit geht, umso verbindender. Ich bin an einer gesunden und gerechten Gesellschaft interessiert, die niemanden wegen eventuellen Andersseins fallen lässt oder Menschen aufgrund nicht selbst gewählter Eigenschaften willkürlich Grundrechte abspricht.

Und wenn mir deswegen doch noch jemand angeblichen „Wokismus“ „vorwirft“, dann bedanke ich mich lächelnd für das Kompliment.


Was meinst du zum Thema? Kennst du Menschen in deinem persönlichen oder virtuellen Umfeld, die sich absichtlich und unironisch als woke bezeichnen? Welche Bedeutung hat der Begriff für dich?


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