Wie kann ich weniger zur Polarität der Welt beitragen?
Manche Dinge „weiß“ ich schon lange, auf einer intellektuellen Ebene. Manches habe ich immer mal wieder gelesen oder in einem Vortrag gehört und dachte „Klingt plausibel“. Gleichzeitig wirkt sich vieles davon erst dann richtig aus, wenn es tiefer sackt und auf der emotionalen Ebene einrastet. Wie genau das passiert und ob oder wie ich das beeinflusst habe, kann ich gar nicht immer genau sagen. Manches überrascht mich auf leisen Sohlen.
„Aber“- ein kleines Wort mit großer Wirkung
Eine solche Erkenntnis ist folgende: Wenn wir etwas sagen und daran ein „aber“ anschließen, tilgen wir im Prinzip das Gesagte. Zum Beispiel, dass wir nicht XY sind, aber… Dass wir XY gut finden, aber… Oft ist die Tilgung nicht beabsichtigt. In anderen Fällen verraten wir damit tatsächlich, was wir wirklich meinen. In beiden Fällen trägt das Ergebnis nicht sonderlich zur Herstellung beziehungsweise Aufrechterhaltung der Beziehung bei. Und die ist es, um die es bei der Kommunikation eigentlich geht.
Eine Alternative, die ich aus einem Vortrag mitgenommen habe: Wenn du „Ja, aber…“ sagen möchtest, versuche es mal mit „Ja. Gleichzeitig…“ Dadurch erkenne ich Gemeinsamkeiten zwischen mir und der anderen Person an, statt nur die Unterschiede in unseren Ansichten zu betonen. Damals fand ich den Ansatz auf der Kopfebene nachvollziehbar und hilfreich für mich, um ihn in Gesprächen bewusst anzuwenden und zu sehen, was passieren würde.
Seit Beginn der Coronapandemie nehme wohl nicht nur ich eine ganze Reihe von Polaritäten oder (scheinbaren) Widersprüchen deutlicher wahr. Über so vieles wird debattiert, so viele Beziehungen drohen, an unterschiedlichen Perspektiven auf die Welt auseinander zu brechen.
Das Tetralemma als Werkzeug bei Polaritäten
Was mich in meiner Coachingausbildung am nachdrücklichsten bewegt hat, ist das Tetralemma, ein Format zum Lösen gefühlter Entscheidungsblockaden. Zwei sich scheinbar unvereinbar gegenüber stehende Dinge werden dabei mehrfach umschlichen und zueinander in Beziehung gesetzt und im Verlauf entsteht eine neue Perspektive, die weder das Eine noch das Andere ausschließt und sich auf einer übergeordneten Ebene regelmäßig erstaunlich leicht anfühlt. Klingt nach buddhistisch geprägter Philosophie und ist es auch. Lustigerweise reagiere ich im Normalfall auf alles, was sich nach Zen anfühlt, eher allergisch. Ja wie jetzt? Das nicht und das nicht, aber das auch nicht? Und wie soll ich all dieses Nichts dann nicht machen? Und nicht wollen? Ohne nicht Nichts zu machen? Das überfordert mein Gehirn, soll es ja auch, und wenn ich einen Moment nicht aufpasse, funktioniert diese Methode sogar 😉
Im Fallen den Boden verfehlen
Anders gesagt: Es ist ein bisschen wie bei der Anleitung zum Fliegenlernen in der fünfbändigen Anhaltertrilogie von Douglas Adams.
“The Guide says there is an art to flying“, said Ford, „or rather a knack. The knack lies in learning how to throw yourself at the ground and miss.”
Douglas Adams
Für die meisten unter uns ist es sicherlich ein ziemliches Kunststück, die rational denkende Instanz für genau die Zeit effektiv abzulenken, die es braucht, um an ihr vorbei zu fliegen. Arthur Dent, der Protagonist der Geschichte, lernt tatsächlich zu fliegen, wenn auch nicht beabsichtigt, sondern stolpernd auf der Flucht vor einem gefährlichen Monster, weil er kurzzeitig durch einen Koffer abgelenkt wird, den er ein paar Jahre zuvor am anderen Ende der Galaxie verloren hatte.
Mein „und gleichzeitig“-Vertrag
Am 2. Februar 2022 habe ich mit mir selbst einen Vertrag für das kommende Jahr geschlossen. Ein Teil war das Versprechen, in meinem Alltag parallel ein Bewusstsein mitlaufen zu lassen und bei Situationen, in denen in mir ein „Ja aber“ aufkam, an der Stelle „gleichzeitig“ zu sagen. Zu Anfang war das ein bisschen wie mit Stützrädern, gleichzeitig war der innerliche Effekt von Anfang faszinierend. Es ist, als ob zwei Bilder auf transparenten Folien übereinander geschoben werden. Beide Bilder sind noch zu erkennen und gleichzeitig ergeben sie gemeinsam etwas Neues. Sie gehen ineinander über und gleichzeitig löst sich keins von beiden im anderen auf. Beide können gleichzeitig bestehen und nichts davon wird beliebig.
Absichtslosigkeit ist ein Teil des „Tricks“
Wie kann ich also so eine hilfreiche Erkenntnis einsickern oder sogar einrasten lassen? Ein Teil des Tricks scheint eine grundsätzliche Absichtslosigkeit zu sein, eine meiner ganz großen Spezialitäten. Gleichzeitig hilft das Üben einer Haltung, die Gleichzeitigkeit wertschätzt und auf der anderen Seite genau im Blick hat, wo die Beliebigkeit anfängt. Welche Aussagen und Handlungen aus dem Bereich dessen rauskippen, was wir als gleichzeitig würdigenswert akzeptieren. Und je schärfer wir die Grenzen im Blick haben, je besser wir unsere eigenen Werte und Standpunkte kennen, umso größer und weicher kann der Raum sein, den wir anderen oder auch scheinbar widersprüchlichen Aspekten innerhalb unseres eigenen inneren Teams einräumen. Und umso bereichernder kann die Gleichzeitigkeit sein. Seitdem ich das Tetralemma ein paarmal sowohl als Coachee und als Coach erleben durfte, wünschen sich die weniger am Denken haftenden Anteile meiner Persönlichkeit diesen Effekt häufiger.
Und irgendwann probiere ich in solchen „Ja, aber“-Momenten noch die nächsten Stufen aus: „Keins von beidem“ und „Selbst das nicht“. Wenn ich es mal richtig wissen will. Bis dahin hilft mir die Gleichzeitigkeit schon deutlich weiter.
Was meinst du?
Hast du Erfahrungen mit dem „ja, aber“, dem „und gleichzeitig“ oder dem Tetralemma? Wie machst du das, dass du mit echten oder scheinbaren Widersprüchen gelassen umgehen kannst? Und wie schaffst du es, rational überzeugende Weisheiten in tieferen Ebenen des Bewusstsein zu verankern, sodass sie sich wirklich auf Dein Leben auswirken?
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