Wie viel Sorgen sollte ich mir um die Welt machen?
Manchmal, wenn ich mir die Welt so ansehe, habe ich die Tendenz, mir Sorgen um meine Mitmenschen, die Natur und unsere Zukunft zu machen. Um dabei nicht zu sehr auf die besorgte Seite zu kippen, lese ich bewusst regelmäßig auf Seiten, die gute Nachrichten und positive Perspektiven vermelden. Außerdem habe das Buch „Factfulness“ auf meinem Lesestapel liegen.
Mit meiner Umgebung gerate ich allerdings immer mal wieder in Dialoge der folgenden Art:
„Hast Du diesen Bericht über die verheerende Situation mit den Unfällen in fleischverarbeitenden Betrieben gehört?“
„Ja, aber im Allgemeinen ist in den letzten Jahrzehnten total viel passiert, was Betriebssicherheit in industriellen Berufen angeht. Zum Beispiel in der Chemie sind die Zahlen rapide runter gegangen.“
Oder anders herum:
„Dieser Shutdown hat ja auch richtig was Positives, wenn Menschen mal mehr Zeit füreinander haben.“
„Ja, bis auf die deutlich gestiegene Fallzahl von häuslicher Gewalt, die ist richtig furchtbar.“
Was an unterschiedlichen Perspektiven frustriert mich manchmal so?
Irgendwann habe ich dann mal überlegt, was genau mich an diesen Situationen so frustriert zurück gelassen hat. Beide Seiten wollten eigentlich die Perspektive des oder der Anderen „gerade rücken“. Zeigen, dass der präsentierte Sachverhalt nicht die ganze Wahrheit abbildet. Im Ergebnis fühlte jedenfalls ich mich aber nicht gehört, nicht ernst genommen und meine Bedenken wurden in meinen Augen abgebügelt. Und Abbügeln und Geradeziehen sind auf der emotionalen Ebene offenbar zwei verschiedene Dinge.
“ Das Bild hängt schief!“
Beide Perspektiven, die pessimistische und die optimistische, sind nicht das komplette Bild. Wenn Menschen mit gegensätzlichen Tendenzen ins Gespräch kommen, kann es schon sein, dass sich beide jeweils getriggert fühlen und der anderen Person erklären wollen, wie schief das Bild aus ihrer Warte hängt. Und das unter der Vorannahme, dass diese andere Person damit eine Aussage zur Gesamtsituation machen wollte. Ohne sich mal versuchshalber neben den oder die Andere zu stellen und deren Perspektive auf sich wirken zu lassen. Oder wenigstens Fragen zu stellen.
Und am Ende zupfen zwei Menschen an einem Gemälde hin und her, das vielleicht gar nicht einmal glatt gezogen und gerade gerückt werden muss. Die Polaritäten pessimistisch/optimistisch sind dabei noch austauschbar mit anderen Perspektivpaaren: Detail/Großansicht, progressiv/konservativ, Eltern/Kinderlose, bestimmt fallen Dir noch weitere Paare ein.
Entlastung durch wertfreies Anerkennen
Mit diesen Erkenntnissen habe ich bei der nächsten Gelegenheit mein Bedürfnis angemeldet, dass die andere Person nur mal kurz und bündig anerkennt, dass etwas wirklich traurig oder ärgerlich ist, ohne „aber“. Ganz einfach „Ja, das ist wirklich traurig.“ Was tatsächlich möglich war, denn Unfälle und Gewalt sind ja traurig. Der intuitiven Annahme, dass Bestätigung dieser als negativ empfundenen Gefühle nur die schlechte Laune verstärkt, stehen übrigens aktuelle Studien entgegen: Wenn Menschen der Eindruck vermittelt wird, dass ihr Ärger über einen Sachverhalt nachvollziehbar ist, nehmen zwar die negativen Gefühle nicht ab, aber die positiven Gefühle werden stabilisiert. Wurde in Versuchen der Ärger als unangemessen abgetan, änderten sich die negativen Gefühle nicht, die positiven nahmen aber ab.
Und der anderen Person tut es gut, wenn ich anerkenne: „Ja, das ist wirklich eine schöne Entwicklung.“ Denn mehr Zeit füreinander und sinkende Unfallzahlen sind ja wirklich schön. Auch optimistische Menschen wissen Validierung zu schätzen.
Gesehenwerden schafft die gesuchte Balance
Und da war er dann, der Ausgleich. Ganz leicht und erfüllend, ausgelöst durch eine andere Stellschraube als gedacht. Sobald wir unsere gegenseitigen Wünsche nach Gesehenwerden erfüllen, ist es nicht mehr relevant, wie schief das Bild hängt. Oder ob. Weil dann die Beziehung waagerecht ist. Weil wir dann weniger mit dem Geodreieck den Rahmen vermessen, und mehr nebeneinander stehen und den Bildinhalt betrachten können. Entspannt, weil wir wissen, dass die andere Person sich genauso gerne neben uns stellen wird und unsere Ansicht als nicht mit „aber“ abzubügelnd validieren wird.
Oder um das Glas mit dem Getränkepegel auf halber Höhe zu bemühen: Ob es halb voll oder halb leer ist, ist weniger relevant als die Frage, ob wir uns gegenseitig auf Augenhöhe wahrnehmen.
Was meinst du?
Wie ist das bei dir, möchtest du auch manchmal dringend eine Perspektive den Zustand der Welt ausgleichen? Wie geht es dir, wenn auf Aussagen über deine Sorgen ein„aber“ folgt? Oder auf deine optimistischen Perspektiven? Wie würde es sich anfühlen, einfach mal zu bestätigen oder bestätigt zu bekommen, dass die jeweiligen Gefühle valide sind? Wie wäre es, beim nächsten Betrachten einer Weltsicht die Wasserwaage beiseite zu legen? Ich wünsche gutes und entspanntes Ausgleichen.
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