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Eine blaue Stahltrinkflasche auf einem Holztisch. Auf der Flasche steht in weiß "stay hydrated"

Gefühlte Fakten – Wenn die Realität emotional wird

Ich liebe Auskünfte (wann immer möglich) konkret und in Zahlen. Gefühlte Angaben und vermutete Fakten verwirren und frustrieren mich. Manchmal fällt meinem Mann und mir auf, wie unterschiedlich unsere Bedürfnisse in diesem Bereich sind. Für ihn können Fragen nach „Wie viel“ oder „Wann“ auch mal Smalltalk sein. Offensichtlich bin ich in Smalltalk wohl doch nicht so gut, wie ich mein Leben lang gedacht habe.

Ein gemeinsamer Freund erklärte mir jedenfalls, als ich ihn fragte, wie viel in seine Trinkflasche rein ginge:

„Och du, ne ganze Menge!“

Wir lachen heute noch, wenn ich meine Edelstahlflasche in die Hand nehme, weil ich von dieser Nullaussage so entgeistert war. Auch weil mein Mann sich königlich freute, nicht alleine zu sein mit dieser Art Auskünfte zu geben.

Vergleiche ohne korrekten Bezug

Manchmal kommt es wirklich nicht so genau drauf an. In anderen Zusammenhängen beeinflussen konkrete Angaben sehr wohl den Ausgang einer Geschichte. Nehmen wir an, jemand erzählt:

„Ich habe diesen Monat viel weniger ausgegeben!“

oder

„Ich bin langsamer gefahren als sonst!“

Dann kann es trotzdem sein, dass diese Person mehr ausgegeben hat als sie zur Verfügung hatte. Oder geblitzt worden ist. Und dann hat sich jemand vielleicht angestrengt, und trotzdem Schulden gemacht oder einen Strafzettel bekommen.

Konkretheit in der Krise

Bei unseren aktuellen Krisen wünsche ich mir deswegen immer dringender mehr Konkretheit. Viele Menschen (besonders auch in der Politik) argumentieren zum Beispiel damit, dass „mehr als je zuvor“ für den Klimaschutz getan würde. Technik XY würde „schon bald“ helfen, „große Mengen“ Treibhausgase einzusparen.

Auch privat debattieren Menschen hauptsächlich qualitativ um Flugreisen, Elektroautos oder importiertes Obst. Die persönlichen Prioritäten und Präferenzen färben unseren Blick dafür ein, was wirkungsvoll und dringend ist. Oder was nur so erscheint.

Und dann ist es nicht mehr nur eine individuelle Marotte, dass Menschen wie ich schwammige Angaben irritierend finden. Dann sorgt ein nicht auf der Realität basierendes Wohlgefühl dafür, dass wir denken, wir seien schon auf einem guten Weg und müssten uns nicht mehr bemühen. Oder schlimmer: Als sei da draußen schon das meiste erledigt, daher müssten wir selbst unser Verhalten gar nicht mehr reflektieren. Und damit vergeht Zeit, die wir eigentlich nicht mehr haben.

Das alles gilt nicht nur im Zusammenhang mit dem Klima. Ich beobachte dasselbe Phänomen auch beim Artensterben, der Pandemieprävention, der gerechten Verteilung von Wohlstand und diversen anderen Themen.

Zahlen ohne Kontext

Selbst wenn jemand ein Argument mit konkreten Zahlen untermauert, kann es sein, dass diese gar nicht die ganze Wahrheit abbilden. Ein weit verbreiteter Einwand gegen klimabewusstes Handeln ist:

„Deutschland verursacht nur 2% der CO2-Emissionen. Wie sollen wir da die Welt retten?“

Abgesehen davon, dass natürlich andere Nationen auch ihre Hausaufgaben übernehmen: Deutschland stellt nur 1% der Weltbevölkerung, trägt also rechnerisch doppelt so stark wie dieser Durchschnitt zu den globalen Emissionen bei. Wenn wir nur eine der beiden Zahlen nennen, ergibt sich ein verzerrtes Bild. In der Folge legen Menschen erleichtert die Hände in den Schoß. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich auch hierbei um gefühlte Fakten.

Ein weiteres Beispiel ist die Idee, CO2 aus der Luft aufzunehmen und zu Rohstoffen für die chemische Industrie zu verarbeiten. Grundsätzlich ist das möglich und es gibt auch Pilotanlagen. In Island scheidet „Mammoth“ pro Jahr 36.000 Tonnen CO2 ab. In Essen baut das Startup Greenlyte Carbon Technologies an einer Technologie, die bis 2050 pro Jahr eine Gigatonne CO2 abscheiden könnte.

Eine Gigatonne ist eine Milliarde Tonnen. Das klingt auf den ersten Blick nach einer Menge und es richtig und wichtig, in diese Richtung zu forschen. Eine Einzelmaßnahme wird dieses historische Problem nicht lösen und jeder Beitrag ist eine gute Nachricht.

Nur: Je nachdem, welches Ziel wir anstreben, haben wir noch ein relativ klar definiertes Budget an CO2, das wir ausstoßen können. In dem Moment, in dem ich diesen Artikel schreibe, verbleiben noch etwas mehr als 210 Gigatonnen, wenn im 20-Jahresmittel die globale Temperatur nicht mehr als 1,5°C über den Wert von vor dem Industriezeitalter steigen soll..

2023 hat die Menschheit weltweit ca. 36,8 Gigatonnen emittiert. Dabei ist dieser Wert gegenüber 2022 sogar gestiegen. Bei gleichbleibendem Ausstoß hätten wir ein bisschen weniger als sechs Jahre Zeit, dann dürften wir gar nichts mehr emittieren oder müssten uns damit auseinandersetzen, wie die Zukunft bei einer Temperaturerhöhung von über 1,5°C aussieht.

Daran gemessen sind die 36.000 Tonnen extrem bescheidene 0,0001%. Und die eine prognostizierte Gigatonne im Jahr 2050 kommt zwanzig Jahre zu spät. Mit etwas mehr Kontext fällt auf, dass die Abscheidungstechnologie nicht die entscheidende Rettung sein wird. Dazu kommt noch, dass die Anlagen sehr energieintensiv sind. Nicht umsonst steht eine davon in Island, um dort die Geothermie zu nutzen.

Kompliziert oder eingängig?

Wir Menschen neigen zum Wunsch nach einfachen Antworten. Leider sind unsere Probleme oft kompliziert bis komplex. Schon das Rechenbeispiel zur CO2-Abscheidung zeigt, wie ein größeres Kontextfenster und genauere Zahlen eine Erzählung aufblähen können. Und dann hören wir nicht mehr so gerne zu. Vor allem, wenn die einfachere Geschichte so positiv klingt und uns signalisiert, dass die Zukunft schon in sicheren technologischen Händen ist.

Ich bin absolut nicht dafür, auf Ermutigung und eingängige Darstellungen zu verzichten. Gleichzeitig halte ich angesichts der Konsequenzen ein bisschen mehr Kompliziertheit für zumutbar. Das muss sich auch nicht ausschließen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn Berichte über technische Beiträge zur Lösung der Klimakrise einordnen, wie viel sie jeweils konkret bringen. Optimismus ja, allerdings nicht als Anlass zur Untätigkeit.

Was brauchen wir?

Ich plädiere hier nicht für Übertreibungen oder andere manipulative Mittel. Was ich mir wünsche: Möglichst nüchterne Offenheit und verständliche Klarheit in der öffentlichen Kommunikation. So viele Zahlen wie nötig, um eine Angelegenheit umfassend darzustellen.

Wir können uns gegenseitig mehr zutrauen, als wir manchmal vermuten. Auf individueller Basis hilft kritisches Denken, Medienkompetenz, eine solide Allgemeinbildung, und ein Vertrauensvorschuss in Experten, wenn wir von einem Thema sehr wenig wissen und diese sich ihr ganzes berufliches Leben lang damit beschäftigt haben.

Ein wünschenswerter Beitrag der Medien wäre der Einsatz von Menschen mit ausreichend Fachkenntnis. Auf der anderen Seite erwarte ich besonders von den öffentlich rechtlichen Sendern weniger Clickbait, weniger sich widersprechende Nachrichten (heute Berichte über zunehmende Überschwemmungen, morgen ein Rezept mit Butter), konkretere Zahlenangaben und eine solidere Einordnung.

Es wäre schon geholfen, wenn nach der Meldung der Tagesschau über die Abscheidungsanlage in Essen folgender Satz gefallen wäre:

„Zum Vergleich: Um das 1,5°C-Ziel zu erreichen steht der Menschheit noch ein Budget von 210 Gigatonnen zur Verfügung, bei gleichbleibendem Ausstoß ist dies in weniger als sechs Jahren aufgebraucht.“

Eine weitere hilfreiche Maßnahme auch um die Allgemeinbildung der Bevölkerung zu verbessern: Klima vor acht. Statt vor den Hauptnachrichten über die Börsenvorkommnisse zu erzählen, gäbe ein kurzes tägliches Update über Klimathemen. Das gleichnamige Projekt existiert schon seit 2020, leider konnte es bisher ARD und ZDF nicht überzeugen. Auf RTL läuft dagegen eine regelmäßig Sendung von wenigen Minuten unter dem Titel „Klima Update“.

Von Menschen aus der Politik wünsche ich mir bezogen auf die diversen Krisen deutlich mehr Ehrlichkeit, auch wenn sie anstrengend ist. Statt Einflussnahme durch Lobbyorganisationen brauchen wir mehr Kooperation unter demokratischen Parteien. Die Arbeit an einer lebenswerten Zukunft ist meiner Ansicht nach wichtiger als der Kampf um eine Wiederwahl.

Was kann ich persönlich tun?

Das wäre mein Wunschzettel. Mir ist klar, der ist alles andere als bescheiden. Was ich persönlich machen kann: Menschen in meinem Umfeld immer wieder aufklären. Bei Gelegenheit nachhaken, gefühlte Fakten als solche benennen.

Für meinen eigenen Wissenshintergrund folge ich Menschen wie Maja Göpel, Claudia Kemfert und Katja Diehl. Alle drei blicken als Transformationsexpertinnen tatkräftig und zuversichtlich in die Zukunft. Alle drei richten ihre Prioritäten am Notwendigen und am Machbaren aus.

Um mit meiner mentalen Energie gut zu haushalten, folge ich außerdem den Psychologists for Future und habe häufige Methoden gezielter Desinformation auf dem Zettel.

Ich suche, so gut ich kann,nach einem Mittelweg heraus aus Wut, Frustration und Resignation. Dabei erinnere ich mich an den Unterschied zwischen isolieren und isolieren, der auf Englisch besser funktioniert als auf Deutsch 😉

isolieren - ein handschriftliches Zitat: Don't isolate yourself, insulate yourself. Raghunath

Was meinst du?

Das ist jetzt ein deutlich längerer Text geworden, als geplant. Und dabei könnte ich zu einer Reihe anderer Probleme noch einmal genauso viel schreiben 😄

Fühlst du dich von Politik und Medien solide informiert? Denkst du auch, dass konkretere Zahlen und realistischere Einordnungen die Menschheit mehr bewegen könnten, ihr Verhalten zu hinterfragen? Hast du auch die Befürchtung, positive Nachrichten ohne Kontext führen dazu, dass Menschen weniger Bewusstsein für die wirkliche Lage haben?

Und wie genau wüsstest du gerne, welches Volumen in eine Trinkflasche passt?


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